Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung, innergemeinschaftliche Lieferungen, Rechtsmissbrauch, Steuerhinterziehung, Beteiligung des liefernden Unternehmers an Steuerhinterziehung im Bestimmungsstaat, Sanktionsmöglichkeiten
Leitsatz (amtlich)
Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wenn also eine innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen tatsächlich stattgefunden hat, der Lieferer jedoch bei der Lieferung die Identität des wahren Erwerbers verschleiert hat, um diesem zu ermöglichen, die Mehrwertsteuer zu hinterziehen, kann der Ausgangsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung aufgrund der ihm nach dem ersten Satzteil von Art. 28c Teil A Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung zustehenden Befugnisse die Mehrwertsteuerbefreiung für diesen Umsatz versagen.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 28c Teil A
Beteiligte
Finanzamt Karlsruhe-Durlach |
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof |
Verfahrensgang
Tatbestand
Sechste Richtlinie ‐ Art. 28c Teil A Buchst. a ‐ Hinterziehung von Mehrwertsteuer ‐ Versagung der Befreiung innergemeinschaftlicher Warenlieferungen von der Mehrwertsteuer ‐ Aktive Teilnahme des Verkäufers an der Hinterziehung ‐ Befugnisse der Mitgliedstaaten im Rahmen der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen
In der Rechtssache C-285/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. Juli 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2009, in dem Strafverfahren gegen
R.,
Beteiligte:
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof,
Finanzamt Karlsruhe-Durlach,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richter E. Juhász, G. Arestis, U. Lõhmus (Berichterstatter) und T. von Danwitz sowie der Richterin C. Toader,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Mai 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Herrn R., vertreten durch die Rechtsanwälte A. Parsch, D. Sauer, F. Kreilein, C. Prinz und K.-F. Zapf,
‐ des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, vertreten durch M. Harms und K. Lohse als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
‐ Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Doherty, Barrister,
‐ der griechischen Regierung, vertreten durch G. Kanellopoulos sowie durch Z. Chatzipavlou und V. Karra als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Juni 2010
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 28c Teil A Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 (ABl. L 269, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn R., dem Steuerhinterziehung in Bezug auf die Erhebung der Mehrwertsteuer vorgeworfen wird.
Rechtlicher Rahmen
Sechste Richtlinie
Rz. 3
Nach Art. 2 der Sechsten Richtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, und die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.
Rz. 4
Die Sechste Richtlinie enthält einen Abschnitt XVIa (Übergangsregelung für die Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten), der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen (ABl. L 376, S. 1) in die Sechste Richtlinie eingefügt wurde und insbesondere die Art. 28a bis 28n umfasst.
Rz. 5
Art. 28a Abs. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
Der Mehrwertsteuer unterliegen auch
a) der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen, der gegen Entgelt im Inland durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, oder aber durch eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, wenn der Verkäufer ein Steuerpflichtiger ist und als solcher handelt und für ihn die Steuerbefreiu...