Entscheidungsstichwort (Thema)
Kapitalertragsteuer, Verbot der Dividendenbesteuerung von Inlandsaktien mit Sondersteuersatz und Auslandsaktien mit dem Regeleinkommensteuersatz
Leitsatz (amtlich)
1. Die Artikel 73b und 73d Absätze 1 und 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG und 58 Absätze 1 und 3 EG) stehen einer Regelung entgegen, die nur den Beziehern österreichischer Kapitalerträge erlaubt, zwischen einer Endbesteuerung mit einem Steuersatz von 25 % und der normalen Einkommensteuer unter Anwendung eines Hälftesteuersatzes zu wählen, während sie vorsieht, dass Kapitalerträge aus einem anderen Mitgliedstaat zwingend der normalen Einkommensteuer ohne Ermäßigung des Steuersatzes unterliegen.
2. Die Weigerung, den Beziehern von Kapitalerträgen aus einem anderen Mitgliedstaat dieselben Steuervorteile wie den Beziehern österreichischer Kapitalerträge zu gewähren, lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass die Einkünfte der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaften dort einem niedrigen Besteuerungsniveau unterliegen.
Normenkette
EGVtr Art. 56, 58 Abs. 1, 3
Beteiligte
Finanzlandesdirektion für Tirol |
Verfahrensgang
VwGH Wien (Österreich) (Beschluss vom 27.08.2002) |
Tatbestand
„Kapitalverkehrsfreiheit ‐ Kapitalertragsteuer ‐ Inländische Kapitalerträge: Endbesteuerung mit einem Steuersatz von 25 % oder Steuersatz in Höhe der Hälfte des auf das gesamte Einkommen entfallenden Durchschnittssteuersatzes ‐ Kapitalerträge aus einem anderen Mitgliedstaat: normaler Steuersatz“
In der Rechtssache C-315/02
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Anneliese Lenz
gegen
Finanzlandesdirektion für Tirol
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 73b und 73d EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG und 58 EG)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann, der Richter A. Rosas und S. von Bahr, der Richterin R. Silva de Lapuerta und des Richters K. Lenaerts (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Tizzano, Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
‐
von A. Lenz, Prozessbevollmächtigte: C. Huber und R. Leitner, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater,
‐
der österreichischen Regierung, vertreten durch H. Dossi als Bevollmächtigten,
‐
der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten,
‐
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und P. Boussaroque als Bevollmächtigte,
‐
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch K. Manji als Bevollmächtigten im Beistand von M. Hoskins, Barrister,
‐
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Gross und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von A. Lenz, vertreten durch R. Leitner und G. Toifl, Steuerberater, der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Bauer als Bevollmächtigten, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Hoskins, und der Kommission, vertreten durch K. Gross und R. Lyal, in der Sitzung vom 29. Januar 2004,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. März 2004,
folgendes
Urteil
1
Mit Beschluss vom 27. August 2002, beim Gerichtshof eingegangen am 6. September 2002, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß Artikel 234 EG drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 73b und 73d EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 EG und 58 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2
Diese Fragen stellen sich in einer Beschwerdesache der Beschwerdeführerin Lenz vor dem genannten Gericht, in der diese die Unvereinbarkeit der österreichischen Regelung zur Besteuerung der Kapitalerträge mit dem Gemeinschaftsrecht rügt.
Rechtlicher Rahmen
3
Das österreichische Steuersystem sieht eine Besteuerung der Einkünfte von in Österreich ansässigen Gesellschaften auf zwei Ebenen vor: Auf der Ebene der Gesellschaft werden die von dieser erzielten Gewinne mit einem pauschalen Steuersatz von 34 % versteuert; auf der Ebene der Aktionäre werden die Kapitalerträge, d. h. die Dividenden und die sonstigen von der Gesellschaft ausgeschütteten Gewinne, besteuert.
4
Welche Regelung für die Aktionärsbesteuerung gilt, hängt davon ab, ob es sich um österreichische oder ausländische Einkünfte handelt.
Die Besteuerung österreichischer Kapitalerträge
5
Nach § 93 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes 1988 (BGBl. 1988/400, im Folgenden: EStG) liegen „[i]nländische Kapitalerträge … vor, wenn der Schuldner der Kapitalerträge Wohnsitz, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland hat oder Zweigstelle im Inland eines Kreditinstituts ist …“ (so die im BGBl. 1996/201 veröffentlichte Fassung).
6
§ 93 Abs. 1 EStG (in der im BGBl. 1996/201 veröffentlichten Fassung) bestimmt: „Bei inländischen Kapitalerträgen … wird die Einkommensteuer durch Abzug vom Kapitalertrag erhoben (Kapitalertragsteuer)“; nach § 95 Absatz 1 EStG beträgt diese 25 %.
7
§ 97 Abs. 1 EStG (in der im BGBl...