Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung, ambulanter Pflegedienst, Merkmal der Kostentragung durch gesetzliche Träger der Sozialversicherung oder Sozialhilfe, Neutralitätsgrundsatz, Anerkennung einer Einrichtung als Einrichtung mit sozialem Charakter
Leitsatz (amtlich)
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage verbietet es bei einer Auslegung im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung der von gewerblichen Leistungserbringern erbrachten ambulanten Pflege von einer Bedingung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden abhängig gemacht wird, nach der die Kosten dieser Pflege im vorangegangenen Kalenderjahr in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sein müssen, wenn diese Bedingung nicht geeignet ist, im Rahmen der für die Zwecke dieser Vorschrift erfolgenden Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, die Gleichbehandlung zu gewährleisten.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g
Beteiligte
Verfahrensgang
Tatbestand
„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ‐ Befreiungen ‐ Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und Abs. 2 ‐ Mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit eng verbundene Leistungen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen ‐ Anerkennung ‐ Bedingungen, die auf Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, nicht anwendbar sind ‐ Ermessen der Mitgliedstaaten ‐ Grenzen ‐ Grundsatz der steuerlichen Neutralität“
In der Rechtssache C-174/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. März 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2011, in dem Verfahren
Finanzamt Steglitz
gegen
Ines Zimmermann
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Richters A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter M. Ilešič, U. Lõhmus (Berichterstatter), A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Frau Zimmermann, vertreten durch Rechtsanwalt U. Behr,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls und C. Soulay als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Juli 2012
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Zimmermann und dem Finanzamt Steglitz (im Folgenden: Finanzamt) wegen der für die Jahre 1993 und 1994 geschuldeten Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsbestimmungen befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
…
b) die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung sowie die mit ihnen eng verbundenen Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder unter Bedingungen, welche mit den Bedingungen für diese Einrichtungen in sozialer Hinsicht vergleichbar sind, von Krankenanstalten, Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden;
…
g) die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen;
…“
Rz. 4
Art. 13 Teil A Abs. 2 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„a) Die Mitgliedstaaten können die Gewährung der unter Absatz 1 Buchstaben b), g), h), i), l),...