Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer, Effektivitätsgrundsatz; Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung
Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegen, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. F
Beteiligte
Banca Antoniana Popolare Veneta |
Banca Antoniana Popolare Veneta SpA |
Ministero dell Economia e delle Finanze |
Verfahrensgang
Corte Suprema di Cassazione (Italien) (Urteil vom 07.06.2010; ABl. EU 2010, Nr. C 288/26) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer ‐ Nationale Regelung, nach der vor verschiedenen Gerichten Klage auf Erstattung einer Nichtschuld erhoben werden kann, wobei unterschiedliche Fristen gelten, je nachdem, ob es sich um den Empfänger oder den Erbringer von Dienstleistungen handelt ‐ Für den Dienstleistungsempfänger bestehende Möglichkeit, vom Dienstleistungserbringer nach Ablauf der für diesen gegenüber der Finanzverwaltung geltenden Klagefrist die Erstattung der Steuer zu verlangen ‐ Grundsatz der Effektivität“
In der Rechtssache C-427/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in dem Verfahren
Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA,
gegen
Ministero dell’Economia e delle Finanze,
Agenzia delle Entrate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis (Berichterstatter), T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA, vertreten durch A. Fantozzi, R. Tieghi und R. Esposito, avvocati,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von P. Mantle, Barrister,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. September 2011
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Steuerneutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung in Bezug auf die Mehrwertsteuer.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA (im Folgenden: BAPV) einerseits und dem Ministero dell’Economia e delle Finanze und der Agenzia delle Entrate (im Folgenden zusammen: Steuerverwaltung) andererseits über deren Weigerung, BAPV nicht geschuldete Mehrwertsteuer zu erstatten, die auf die von BAPV erbrachte Leistungen der Einziehung von Verbandsbeiträgen erhoben wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) sah vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…“
Rz. 4
Art. 13 Teil B Buchst. d Nrn. 2 und 3 dieser Richtlinie bestimmte:
„B. Sonstige Steuerbefreiungen
Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
…
d) die folgenden Umsätze:
…
2....