Entscheidungsstichwort (Thema)
Niederlassungsfreiheit, Verlustabzug einer Muttergesellschaft, Verluste einer EU-ausländischen Tochtergesellschaft, Fusion einer inländischen Muttergesellschaft mit einer EU-ausländischen Tochtergesellschaft
Leitsatz (amtlich)
1. Die Art. 49 AEUV und 54 AEUV stehen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Möglichkeit ausschließt, dass eine Muttergesellschaft, die mit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft, die ihre Tätigkeit eingestellt hat, fusioniert, von ihren steuerpflichtigen Einkünften die in Veranlagungszeiträumen vor der Fusion erlittenen Verluste dieser Tochtergesellschaft in Abzug bringt, während die nationale Regelung eine solche Möglichkeit vorsieht, wenn die Fusion mit einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft erfolgt. Eine solche nationale Regelung ist jedoch mit dem Unionsrecht unvereinbar, wenn sie der Muttergesellschaft nicht ermöglicht, nachzuweisen, dass ihre gebietsfremde Tochtergesellschaft die Möglichkeiten der Berücksichtigung dieser Verluste ausgeschöpft hat und dass es keine Möglichkeiten gibt, dass diese Verluste im Sitzstaat der Tochtergesellschaft von dieser oder von einem Dritten in künftigen Veranlagungszeiträumen berücksichtigt werden.
2. Die Vorschriften zur Berechnung der Verluste der gebietsfremden Tochtergesellschaft für die Zwecke ihrer Übernahme durch die gebietsansässige Muttergesellschaft im Rahmen eines Vorgangs wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen dürfen keine Ungleichbehandlung im Vergleich zu den Berechnungsvorschriften darstellen, die anwendbar wären, wenn diese Fusion mit einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft durchgeführt worden wäre.
Normenkette
AEUV Art. 49, 54
Beteiligte
Verfahrensgang
KHO (Finnland) (Urteil vom 07.03.2011; ABl. EU 2011, Nr. C 145/17) |
Tatbestand
„Niederlassungsfreiheit ‐ Art. 49 AEUV ‐ Steuerrecht ‐ Fusion einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft mit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft ‐ Möglichkeit der Muttergesellschaft, die aus den Tätigkeiten der Tochtergesellschaft entstandenen Verluste dieser Gesellschaft abzuziehen ‐ Ausschluss für gebietsfremde Tochtergesellschaften“
In der Rechtssache C-123/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidung vom 7. März 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2011, in dem Verfahren
A Oy
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, des Richters J.-C. Bonichot (Berichterstatter), der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juni 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der A Oy, vertreten durch A. Blomqvist, asianajaja,
‐ der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und J.-S. Pilczer als Bevollmächtigte,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Santoro, avvocato dello Stato,
‐ der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und S. Johannesson als Bevollmächtigte,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte im Beistand von K. Bacon und R. Hill, Barristers,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und I. Koskinen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Juli 2012
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV und 54 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines von der A Oy (im Folgenden: A), einer Gesellschaft finnischen Rechts, angestrengten Verfahrens gegen die Entscheidung des Keskusverolautakunta (Zentraler Ausschuss für Steuersachen), wonach A bei einer Fusion mit einer schwedischen Tochtergesellschaft deren Verluste nicht steuerlich in Abzug bringen kann.
Rechtlicher Rahmen
Nationales Recht
Rz. 3
Art. 7 Abs. 1 des am 23. September 1996 in Helsinki geschlossenen Abkommens der nordischen Länder zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (SopS 26/1997) sieht vor:
„Gewinne eines Unternehmens eines Vertragsstaats können nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, das Unternehmen übt seine Geschäftstätigkeit im anderen Vertragsstaat durch eine dort gelegene Betriebsstätte aus. Übt das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit auf diese Weise aus, so können die Gewinne des Unternehmens im anderen Staat besteuert werden, jedoch nur insoweit als sie dieser Betriebsstätte zugerechnet werden können.“
Finnisches Recht
Rz. 4
Das Gesetz 360/19...