Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlustabzug, In anderem Mitgliedstaat belegene Betriebstätte, Abzug von Verlusten, die in einer EU-ausländischen Betriebstätte anfallen, DBA Deutschland/Vereinigtes Königreich
Normenkette
AEUV Art. 49, 54
Beteiligte
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Art. 49 und 54 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der eine dort gebietsansässige Gesellschaft die endgültigen Verluste ihrer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte von ihrem steuerpflichtigen Gewinn nicht abziehen kann, wenn der Ansässigkeitsmitgliedstaat aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens auf seine Befugnis zur Besteuerung der Einkünfte dieser Betriebsstätte verzichtet hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 6. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Oktober 2020, in dem Verfahren
Finanzamt B
gegen
W AG
Beteiligter:
Bundesministerium der Finanzen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richter S. Rodin und J.-C. Bonichot (Berichterstatter) sowie der Richterinnen L. S. Rossi und O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
- der W AG, vertreten durch Rechtsanwalt P. Dodos,
- der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und E. Toutain als Bevollmächtigte,
- der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen, A. Laine und H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Art. 49 und 54 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt B (Deutschland) und der W AG, einer in Deutschland ansässigen Aktiengesellschaft, wegen der Weigerung des Finanzamts, die Verluste einer im Vereinigten Königreich belegenen und 2007 geschlossenen Betriebsstätte der W AG bei der Berechnung der von W für das Jahr 2007 geschuldeten Steuer zu berücksichtigen.
Rechtlicher Rahmen
Deutsches Recht
Rz. 3
§ 1 des Körperschaftsteuergesetzes in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: KStG) bestimmt:
„(1) Unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig sind die folgenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz im Inland haben:
1. Kapitalgesellschaften (insbesondere Europäische Gesellschaften, Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter Haftung);
…
(2) Die unbeschränkte Körperschaftsteuerpflicht erstreckt sich auf sämtliche Einkünfte.
…”
Rz. 4
Nach § 8 Abs. 2 KStG sind bei unbeschränkt Steuerpflichtigen im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 alle Einkünfte als Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu behandeln.
Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
Rz. 5
Art. III Abs. 1 des Abkommens vom 26. November 1964 zwischen dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung in der durch das Revisionsprotokoll vom 23. März 1970 geänderten Fassung (BGBl. 1966 II, S. 359; BGBl. 1967 II, S. 828 und BGBl. 1971 II, S. 46) (im Folgenden: DBA) sieht vor:
„Gewerbliche Gewinne eines Unternehmens eines der Gebiete werden nur in diesem Gebiete besteuert, es sei denn, dass das Unternehmen in dem anderen Gebiet eine gewerbliche Tätigkeit durch eine dort gelegene Betriebstätte ausübt. Übt das Unternehmen durch eine Betriebstätte in dem anderen Gebiet eine gewerbliche Tätigkeit durch eine dort gelegene Betriebstätte aus, so können die Gewinne in dem anderen Gebiete besteuert werden, jedoch nur insoweit, als sie dieser Betriebstätte zugerechnet werden können.”
Rz. 6
Art. XVIII Abs. 2 DBA sieht vor:
„Im Falle einer in der Bundesrepublik ansässigen Person wird die Steuer wie folgt festgesetzt:
a) Von der Besteuerungsgrundlage der Steuer der Bundesrepublik werden die Einkünfte aus Quellen innerhalb des Vereinigten Königreichs und die innerhalb des Vereinigten Königreichs gelegenen Vermögensteile ausgenommen, die … im Vereinigten Königreich besteuert werden können …; die in Artikel VIII Absatz 1 genannten Gewinne werden aber nur dann ausgenommen, wenn sie im Vereinigten Königreich steuerpflichtig sind. Deutschland behält aber das Recht, die so ausgenommenen Einkünfte und Vermögensteile bei der Festsetzung des Steuersatzes zu berücksichtigen.
…”
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 7
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