Entscheidungsstichwort (Thema)
Wohnort eines Elternteils in einem anderen Mitgliedstaat, Wohnort des Kindes in einem anderen Mitgliedstaat, Ausländischer Wohnort der Kindesmutter, Anspruch auf Kindergeld
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
2. Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 ist dahin auszulegen, dass danach nicht verlangt wird, dass der Anspruch auf Familienleistungen, die für ein Kind gewährt werden, dem Elternteil des Kindes, der in dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnt, deshalb zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat.
Normenkette
EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 Sätze 2-3
Beteiligte
Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse Sachsen |
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Soziale Sicherheit ‐ Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ‐ Art. 67 ‐ Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ‐ Art. 60 Abs. 1 ‐ Gewährung von Familienleistungen im Scheidungsfall ‐ Begriff ‚beteiligte Person‘ ‐ Regelung eines Mitgliedstaats, wonach das Kindergeld dem Elternteil zusteht, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat ‐ Wohnort dieses Elternteils in einem anderen Mitgliedstaat ‐ Nichtbeantragung von Kindergeld durch diesen Elternteil ‐ Etwaiges Recht des anderen Elternteils, dieses Kindergeld zu beantragen“
In der Rechtssache C-378/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. August 2014, in dem Verfahren
Bundesagentur für Arbeit ‐ Familienkasse Sachsen
gegen
Tomislaw Trapkowski
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richter F. Biltgen und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters S. Rodin (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Juni 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Herrn Trapkowski, vertreten durch Rechtsanwalt C. Rebber,
‐ der niederländischen Regierung, vertreten durch B. Koopman und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
‐ der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
‐ des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, Barrister,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesagentur für Arbeit ‐ Familienkasse Sachsen (im Folgenden: BfA) und Herrn Trapkowski über die Weigerung der BfA, Herrn Trapkowski für sein Kind, das mit der Kindesmutter in Polen wohnt, Kindergeld zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 883/2004
Rz. 3
Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt u. a. in ABl. L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004) bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
i) ‚Familienangehöriger‘:
1. i) jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird;
…“
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:
„Diese Verordnung gilt f...