Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Arbeitszeitgestaltung. Verkürzung der normalen Dauer der Nachtarbeit im Vergleich zu derjenigen der Tagarbeit. Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor und Arbeitnehmer im privaten Sektor. Gleichbehandlung
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 20, 31; Richtlinie 2003/88/EG Art. 8, 12 Buchst. a
Beteiligte
Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto” |
Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto” |
Tenor
1. Art. 8 und Art. 12 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass sie nicht den Erlass einer nationalen Regelung gebieten, die vorsieht, dass die normale Dauer des Nachtdienstes für Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor wie Polizisten und Feuerwehrleute kürzer ist als die für diese festgelegte normale Dauer des Dienstes am Tag. Solchen Arbeitnehmern müssen jedenfalls andere Schutzmaßnahmen in Bezug auf Arbeitszeit, Arbeitsentgelt, Ausgleichszahlungen oder ähnliche Vergünstigungen gewährt werden, die es ermöglichen, die besondere Belastung auszugleichen, die die von ihnen geleistete Nachtarbeit mit sich bringt.
2. Die Art. 20 und 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass die in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats für die Arbeitnehmer im privaten Sektor festgelegte normale Dauer der Nachtarbeit von sieben Stunden für die Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor, einschließlich Polizisten und Feuerwehrleute, nicht gilt, wenn diese Ungleichbehandlung auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit dieser Regelung verfolgt wird, und wenn sie in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel steht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Rayonen sad Lukovit (Rayongericht Lukovit, Bulgarien) mit Entscheidung vom 15. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juni 2020, in dem Verfahren
VB
gegen
Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto”
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin) sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von VB, vertreten durch V. Petrova, Advokat,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Valero und V. Bozhilova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. September 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sowie der Art. 20 und 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen VB, einem Bediensteten der Feuerwehr bei der Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto” kam Ministerstvo na vatreshnite raboti (Hauptdirektion „Brand- und Bevölkerungsschutz” des Innenministeriums, Bulgarien) (im Folgenden: Hauptdirektion „Brand- und Bevölkerungsschutz”), und seiner Hauptdirektion wegen der Abrechnung und der Auszahlung seiner Nachtarbeitsstunden.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Art. 8 des Übereinkommens Nr. 171 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 26. Juni 1990 über Nachtarbeit sieht vor:
„Der Ausgleich für Nachtarbeiter in Form von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen hat der Natur der Nachtarbeit Rechnung zu tragen.”
Unionsrecht
Rz. 4
Die Erwägungsgründe 6 bis 8 und 10 der Richtlinie 2003/88 lauten:
„(6) Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der [IAO] Rechnung zu tragen; dies betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze.
(7) Untersuchungen zeigen, dass der menschliche Organismus während der Nacht besonders empfindlich auf Umweltstörungen und auf bestimmte belastende Formen der Arbeitsorganisation reagiert und dass lange Nachtarbeitszeiträume für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig sind und ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen können.
(8) Infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt.
…
(10) In Anbetracht der besonderen Lage von Nacht- und Schicht...