Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbarkeit, Unternehmereigenschaft, Einrichtung des öffentlichen Rechts, Lieferbegriff, Umwandlung des Erbnießbrauchs an einer Immobilie in Volleigentum, Entgelt für die Umwandlung eines Erbnießbrauchs in Eigentum, Öffentliche Gewalt
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, 2 Buchst. a
Beteiligte
Dyrektor Krajowej informacji Skarbowej |
Verfahrensgang
Wojewódzki Sad Administracyjny we Wroclawiu (Polen) (Beschluss vom 19.06.2019; ABl. EU 2019, Nr. C 383/42) |
Tenor
1. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die nach nationalem Recht vorgesehene Umwandlung des Erbnießbrauchs an einer Immobilie in Volleigentum gegen Entrichtung eines Entgelts eine Lieferung von Gegenständen im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
2. Die Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass eine Gemeinde, die Eigentümerin einer Immobilie ist, bei der nach nationalem Recht vorgesehenen Umwandlung des Erbnießbrauchs an der Immobilie in Volleigentum gegen Entrichtung eines Entgelts an die Gemeinde, so dass sie daraus nachhaltig Einnahmen erzielen kann, vorbehaltlich der von dem vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen als Steuerpflichtige im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie handelt und nicht als Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau, Polen) mit Entscheidung vom 19. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 9. August 2019, in dem Verfahren
Gmina Wrocław
gegen
Dyrektor Krajowej informacji Skarbowej
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan und N. Jääskinen (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Gmina Wrocław, vertreten durch E. Mroczko und T. Straszkiewicz, radcowie prawni,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und M. Siekierzynska als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. September 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 sowie Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gmina Wrocław (Gemeinde Breslau, Polen) und dem Dyrektor Krajowej informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) wegen der an diese Gemeinde gerichteten Einzelfallauslegung betreffend die Erhebung der Mehrwertsteuer auf von dieser Gemeinde aufgrund der Umwandlung des Erbnießbrauchs an Immobilien in Volleigentum vereinnahmte Entgelte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 5
In Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:
„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
…”
Rz. 6
Art. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Als ‚Lieferung von Gegenständen’ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
(...