Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung, innergemeinschaftliche Lieferung, Reihengeschäft, Zuordnung der Warenbewegung zu einer Lieferung im Reihengeschäft, Mitteilung des Ersterwerbers über Weiterverkauf
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Lieferung von Gegenständen seitens eines Steuerpflichtigen, der in einem ersten Mitgliedstaat niedergelassen ist, nicht nach Maßgabe dieser Bestimmung von der Mehrwertsteuer befreit ist, wenn der in einem zweiten Mitgliedstaat für Mehrwertsteuerzwecke erfasste Erwerber vor Bewirkung dieses Lieferumsatzes den Lieferanten darüber informiert, dass die Waren unmittelbar an einen in einem dritten Mitgliedstaat niedergelassenen Steuerpflichtigen weiterverkauft werden, bevor sie aus dem ersten Mitgliedstaat ausgeführt und zum dritten Steuerpflichtigen befördert werden, sofern die Zweitlieferung tatsächlich erfolgt ist und die Waren sodann vom ersten Mitgliedstaat in den Mitgliedstaat des dritten Steuerpflichtigen befördert wurden. Die mehrwertsteuerliche Erfassung des ersten Erwerbers in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Ort der Erstlieferung oder des Enderwerbs befindet, ist weder ein Kriterium für die Einstufung als innergemeinschaftlicher Umsatz noch für sich genommen ein hinreichender Beweis für den innergemeinschaftlichen Charakter eines Umsatzes.
2. Im Rahmen der Auslegung von Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 hat eine Bearbeitung von Gegenständen im Lauf einer Kette zweier aufeinanderfolgender Lieferungen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die auf Weisung des Zwischenerwerbers und vor der Beförderung in den Mitgliedstaat des Endabnehmers vorgenommen wird, keine Auswirkungen auf die Voraussetzungen für die etwaige Befreiung der Erstlieferung von der Steuer, sofern die Bearbeitung nach der Erstlieferung stattfindet.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 138 Abs. 1
Beteiligte
Valstybine mokesciu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos |
Verfahrensgang
Lietuvos vyriausiasis (Litauen) (Beschluss vom 04.07.2016; ABl. EU 2016, Nr. C 343/34) |
Tatbestand
"Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 138 Abs. 1 ‐ Einstufung eines Umsatzes als innergemeinschaftliche Lieferung ‐ Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferungen von Gegenständen ‐ Absicht des Erwerbers, die gekauften Gegenstände vor ihrer Ausfuhr an einen Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat weiterzuverkaufen ‐ Mögliche Auswirkungen der Bearbeitung eines Teils der Gegenstände vor ihrer Versendung"
In der Rechtssache C-386/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) mit Entscheidung vom 4. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juli 2016, in dem Verfahren
"Toridas" UAB
gegen
Valstybine mokesčiu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos,
Streithelfer:
Kauno apskrities valstybine mokesčiu inspekcija,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Juhász, des Richters C. Vajda und der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der "Toridas" UAB, vertreten durch R. Mištautas, advokatas,
‐ der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas, K. Dieninis und D. Stepanienė als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 138 Abs. 1, Art. 140 Buchst. a und Art. 141 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in Verbindung mit den Art. 33 und 40 dieser Richtlinie.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Toridas UAB und der Valstybinė mokesčiu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen) über die Einstufung von Umsätzen, die Toridas in den Jahren 2008 bis 2010 erzielte, als innergemeinschaftliche Lieferungen und die Zahlung der Mehrwertsteuer auf diese Umsätze zuzüglich Verzugszinsen und eines Steuerbußgelds.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
Als Lieferung von Gegenständen gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
Rz. 4
In Art. 20 der Richtlinie heißt es:
Als innergemeinschaftlicher Erwerb v...