Entscheidungsstichwort (Thema)
Umsatzsteuerbefreiung von förmlichen Zustellungen durch postalische Universaldienste
Leitsatz (redaktionell)
1. Es ist ernstlich Zweifelhaft, ob die Umsätze aus förmlichen Zustellungen eines Unternehmens, das Postdienstleistungen erbringt, nicht von der Steuerbefreiung in Art. 132 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL erfasst werden.
2. Das Unternehmen kann sich hinsichtlich der Umsatzsteuerbefreiung von förmlichen Zustellungen unmittelbar auf die Steuerbefreiung der MwStSystRL berufen.
Normenkette
MwStSystRL Art. 132 Abs. 1a; UStG a.F. § 4 Nr. 11b; PostG §§ 5, 12 Abs. 1, § 13 Abs. 2, § 20 Abs. 1-2, § 23 Abs. 1, § 34 S. 3
Nachgehend
Tenor
1. Die Vollziehung des Umsatzsteuersteuerbescheids 2008 vom 4. Februar 2011 und des Umsatzsteuerbescheids 2009 vom 25. März 2011 wird mit Wirkung ab Fälligkeit ohne Sicherheitsleistung aufgehoben.
2. Die Vollziehung der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide für die Monate August 2008 bis Februar 2009 vom 20. April 2006 und für die Monate März bis Mai 2009 vom 22. April 2009 wird mit Wirkung ab Fälligkeit aufgehoben, soweit diese Grundlage für die Entstehung von Säumniszuschlägen wurden.
3. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
4. Die Beschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Umsätze der Antragstellerin durch förmliche Zustellungen steuerfrei sind.
I.
Die Antragstellerin ist Unternehmerin und Organträgerin einer umsatzsteuerlichen Organschaft. Sie erbringt im Rahmen ihres Unternehmens durch verschiedene Organgesellschaften im wesentlichen Postdienstleistungen. Im Streitzeitraum führte sie unter anderem Umsätze aus förmlichen Zustellungen aus, die sie als steuerfrei behandelte. In den ausgestellten Rechnungen wies die Antragstellerin keine Umsatzsteuer gesondert aus.
Auf Antrag verschiedener Organgesellschaften der Antragstellerin wurden die beantragten Entgelte für förmliche Zustellungen in Höhe von … EUR bis … EUR (jeweils ohne die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer) durch Beschlüsse der Bundesnetzagentur vom 11. Mai 2006, vom 3. November 2006, vom 11. Dezember 2006, vom 11. Mai 2007, vom 15. Mai 2008, vom 27. Juni 2008, vom 19. Oktober 2009 und vom 6. Mai 2010 genehmigt. Wegen der Einzelheiten wird auf die in den Akten befindlichen Beschlüsse Bezug genommen (Rechtsbehelfsakten I, Bl. 52-96).
Anlässlich einer bei der Antragstellerin durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung vertrat der Prüfer die Ansicht, die Umsätze aus förmlichen Zustellungen seien steuerpflichtig. Der Antragsgegner schloss sich dieser Auffassung an und behandelte die Umsätze in den geänderten Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheiden für die Monate August 2008 bis Mai 2009 als steuerpflichtig.
Gegen die geänderten Bescheide legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Der Antragsgegner wies den Einspruch betreffend die Aussetzung der Vollziehung und die Einsprüche gegen die Vorauszahlungsbescheide mit Einspruchsentscheidungen vom 6. Oktober 2010 bzw. 16. November 2010 als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin form- und fristgerecht Antrag auf gerichtliche Aussetzung der Vollziehung gestellt bzw. Klage erhoben. Über die Klage ist bislang noch nicht entschieden.
Mit dem Antrag begehrt die Antragstellerin die Aufhebung der Vollziehung hinsichtlich der ergangenen Umsatzsteuerbescheide. Die Umsätze aus förmlichen Zustellungen seien steuerfrei. Die Befreiung ergebe sich unmittelbar aus Art. 132 Abs. 1 Buchstabe a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2005 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Soweit § 4 Nr. 11b des Umsatzsteuergesetzes in der bis zum 30. Juni 2010 geltenden Fassung (UStG a.F.) dem entgegenstehe, könne sich die Antragstellerin unmittelbar auf die MwStSystRL berufen. Die innerstaatliche Vorschrift setze die Richtlinie nicht vollständig um. Die Steuerbefreiung begünstige ausweislich der Titelüberschrift bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten und nicht bestimmte Unternehmen. Die förmliche Zustellung stelle eine Universaldienstleistung im Sinne der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität, zuletzt geändert durch Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 (nachfolgend: RL 97/67/EG). Jedenfalls diene die förmliche Zustellung dem Gemeinwohl, da sie die nachprüfbare Versendung von amtlichen Schreiben und Entscheidungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sicherstelle. Eine verlässliche und ordnungsgemäße Rechtspflege liege im allgemeinen Interesse. Die förmliche Zustellung sei für ein geordnetes Gerichts- oder Verwaltungsverfahren unabdingbar und diene deshalb ihrerseits dem Gemeinwohl. Diese Ansicht werde durch das Urteil des Landgerichts Hambu...