Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf die Steuerbefreiung für eine Grundstückslieferung gemäß § 9 Abs. 1 UStG kann nachträglich rückgängig gemacht werden. Widerlegung der Dreitages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO bei Abholung einer Einspruchsentscheidung durch privaten Zustelldienst und bei nicht nicht dokumentierter Weitergabe an die Deutsche Post AG an einem Freitag
Leitsatz (redaktionell)
1. Ist im notariell beurkundeten Grundstückskaufvertrag auf die Umsatzsteuerbefreiung für die Grundstückslieferung nach § 9 Abs. 1 UStG verzichtet worden, kann dieser Verzicht nachträglich bis zum Eintritt der materiellen Bestandskraft (Unabänderbarkeit) der Umsatzsteuerfestsetzung rückgängig gemacht werden (gegen Abschn. 9.2 Abs. 9 Satz 3 UStAE); dem stehen weder § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG noch Unionsrecht entgegen.
2. Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang eines durch einfachen Brief versandten schriftlichen Verwaltungsakts überhaupt, sondern behauptet er lediglich, das Schriftsück nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Für die Erschütterung der Zugangsfiktion reicht es aus, wenn der Empfänger darauf hinweist, dass die Zustellung von einem privaten Zustelldienst unter Zwischenschaltung eines weiteren Dienstleistungsunternehmens (hier: Deutsche Post AG) erfolgt ist, insbesondere bei einem auf einen Freitag fallenden Postaufgabetag und wenn die Prozessbevollmächtigten des Steuerpflichtigen den Eingang des Schriftstücks erst nach Ablauf des Dreitageszeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch eine Eidesstattliche Versicherung ihrer Mitarbeiterin im Sekretariat, durch den Eingangsstempel auf der Einspruchsentscheidung sowie den Eintrag im Fristenkontrollbuch glaubhaft gemacht haben.
3. Es liegt dann im Verantwortungsbereich der Finanzbehörde nachzuweisen, dass die Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten ist wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes. Dieser Nachweis ist nicht erbracht, wenn der private Zustelldienst überregional zu befördernde einfache Briefe (wie die streitige Einspruchsentscheidung) weder bei der Abholung beim Finanzamt noch bei der Weiterleitung an die Deutsche Post AG erfasst und wenn auch die Deutsche Post AG bei einfachen Briefen nicht dokumentiert, welche Bearbeitungsstellen die Sendung durchläuft.
Normenkette
UStG § 4 Nr. 9 Buchst. a, § 9 Abs. 1, 3 Sätze 1-2; FGO § 47 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1; AO § 122 Abs. 2 Nr. 1; UStAE Abschn. 9.2 Abs. 9 S. 3; MwStSystRL Art. 137
Nachgehend
Tenor
1. Der Umsatzsteuerbescheid 2011 vom 1. September 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 2018 wird dahin abgeändert, dass die Vorsteuerberichtigung in Höhe von 30.400 EUR entfällt.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.
4. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten oder Beistands für das Vorverfahren war notwendig.
5. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner kann der Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung in Höhe des durch Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzten Erstattungsbetrags Sicherheit leistet. Ist durch Kostenfestsetzungsbeschluss ein Erstattungsbetrag von insgesamt mehr als 1.500 EUR festgesetzt, hat der Gläubiger in Höhe des durch Kostenfestsetzungsbeschluss insgesamt festgesetzten Erstattungsbetrags Sicherheit zu leisten.
Tatbestand
Streitig ist in der Sache, ob die Rückgängigmachung eines Verzichts auf die Steuerbefreiung für eine Grundstückslieferung wirksam ist.
1. Die Klägerin, eine GmbH, erwarb mit notariell beurkundetem Grundstückskaufvertrag vom 18. Mai 2009 von der B Immobilien GmbH (Veräußerin) das Grundstück in X, … straße für 320.000 EUR. Auf dem Grundstück stand ein sanierungsbedürftiges Gebäude. Die Veräußerin verzichtete in § 3 Abs. 1 des Vertrags auf die Steuerbefreiung für Grundstückslieferungen.
Die Klägerin wollte (unstreitig) das Objekt sanieren und steuerpflichtig weiterverkaufen. In ihrer Umsatzsteuererklärung 2009 vom 15. Juli 2010 gab sie Umsätze von 320.000 EUR an, für die sie nach § 13b Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der damals geltenden Fassung als Leistungsempfängerin die Steuer schuldet, und zog die sich daraus ergebende Steuer von 60.800 EUR gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG als Vorsteuer wieder ab. Eine Zahllast ergab sich nicht.
Die Veräußerin reichte ihre Umsatzsteuererklärung 2009 am 16. Juni 2010 ein. Das für deren Besteuerung zuständige Finanzamt stimmte der Erklärung am 23. September 2010 zu. Weitere Änderungen der Steuerfestsetzung ergaben sich bis zum Jahr 2013 nicht.
2. Die Klägerin veräußerte entgegen ihrer ursprünglichen Absicht mit no...