Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses des Werbungskostenabzugs bei Kapitaleinkünften. voller Werbungskostenabzug bei Günstigerprüfung
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Rahmen der Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 S. 1 EStG sind bei verfassungskonformer Auslegung die Kapitaleinkünfte unter Ansatz der tatsächlichen Werbungskosten zu ermitteln.
2. Der Ausschluss des Abzugs der tatsächlichen Werbungskosten im Rahmen der Einkünfte aus Kapitalvermögen stellt eine Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip dar. Es werden alle Steuerpflichtigen schlechtergestellt, die zur Erzielung ihrer Einnahmen aus Kapitalvermögen Werbungskosten von mehr als 801 EUR aufgewendet haben.Das objektive Nettoprinzip gilt auch im Rahmen der Abgeltungssteuer.
Normenkette
EStG 2009 § 20 Abs. 9 S. 1, §§ 32d, 43 Abs. 5, § 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 3 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
1. Der Einkommensteuerbescheid 2009 vom 8. April 2010 wird dahingehend abgeändert, dass die Einkommensteuer in Höhe von 1.182 Euro festgesetzt wird.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch einfache Erklärung abwenden, wenn der Kläger nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Ausschluss des Abzugs von Werbungskosten bei der Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen ab dem Veranlagungszeitraum 2009 verfassungsgemäß ist.
Der Kläger ist testamentarischer Alleinerbe der im Juli 1914 geborenen X. Diese schloss zusammen mit ihrem damals noch lebenden Ehemann als Treugeber am 5. März 1998 mit dem Prozessbevollmächtigten einen Treuhandvertrag. Gegenstand des Vertrags war die Verwaltung des den Treugebern gehörenden Einfamilienhauses, verschiedener einzeln bezeichneter Konten und Sparbücher sowie der bestehenden Rentenansprüche. Die Vergütung bestand in einem Pauschalhonorar, einem zusätzlichen Stundenhonorar für besondere Maßnahmen, Aufwendungs- und Auslagenersatz. Für die Erstellung der ehelichen Steuererklärungen wurde die Vergütung gemäß der Steuerberatergebührenverordnung vereinbart. Wegen der Einzelheiten wird auf den in den Akten vorhandenen Vertrag verwiesen (Allgemeine Akten, Bl. 10-16). Seit dem Jahr 2000 lebte Frau X in einem Pflegeheim.
Nachdem zwischenzeitlich der Ehemann von Frau X verstorben war, erteilte sie dem Prozessbevollmächtigten am 15. November 2004 eine umfassende General- und Vorsorgevollmacht, die ausdrücklich auch die Vertretung in Steuerangelegenheiten umfasst. Am 16. November 2004 wurde der Treuhandvertrag geändert und ein höheres Pauschalhonorar sowie eine zusätzliche Sondervergütung vereinbart. Das Einfamilienhaus wurde im Jahr 2006 veräußert.
Im Rahmen des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 (Bundesgesetzblatt I 2007, S. 1912) wurde die Besteuerung der Erträge aus privatem Kapitalvermögen umfassend neu gestaltet und in die Form einer Abgeltungssteuer überführt. Für die Einkünfte aus Kapitalvermögen gilt seitdem ein einheitlicher Steuersatz von 25 %, der mit abgeltender Wirkung an der Quelle einbehalten wird (§ 32d, § 43 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes in der im Veranlagungszeitraum 2009 geltenden Fassung – nachfolgend: EStG). Weiterhin wurde ein einheitlicher Sparer-Pauschbetrag von 801 EUR eingeführt und der Abzug von darüber hinausgehenden tatsächlichen Werbungskosten grundsätzlich ausgeschlossen (§ 20 Abs. 9 S. 1 EStG). Für Steuerpflichtige, deren persönlicher Steuersatz niedriger als der Abgeltungssteuersatz ist, wurde in § 32d Abs. 6 EStG die Möglichkeit geschaffen, die Einkünfte aus Kapitalvermögen nur dem niedrigeren Steuersatz zu unterwerfen. Der Antrag kann für den jeweiligen Veranlagungszeitraum nur einheitlich für sämtliche Kapitalerträge gestellt werden.
In der im März 2010 beim Beklagten abgegebenen Einkommensteuererklärung 2009 erklärte Frau X neben Renteneinkünften Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 30.238 EUR. Zu diesem Zeitpunkt war Frau X 95 Jahre alt und litt an einer dementen Störung, weshalb sie in die Pflegestufe II eingestuft worden ist. Der Prozessbevollmächtigte verwaltete aufgrund des Treuhandvertrags das Vermögen von Frau X und betreute sie. In der Steuererklärung wies der Prozessbevollmächtigte darauf hin, dass im Veranlagungszeitraum 2009 eine Zusammenballung von Einnahmen aus Kapitalvermögen vorliege. Im Folgejahr 2010 sei lediglich mit Zinseinnahmen von 12.800 EUR zu rechnen, was zu einer Steuerschuld von 0 EUR führe. Im Einkommensteuerbescheid 2009 vom 8. April 2010 berücksichtigte der Beklagte die Kapitaleinnahmen in der erklärten Höhe und zog den Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro ab. Von der im Veranlagungszeitraum 2009 aufgrund des Treuhandvertrags von Frau X gezahlten Vergütung von insgesamt 10.647,64 EUR berücksichtigte der Beklagte einen Teilbetrag von 3.549,21 EUR als außergewöhnliche Belastu...