Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Aufhebung von Verwaltungsakten der DDR
Leitsatz (redaktionell)
Nach Art. 19 Einigungsvertrag bleiben vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik grundsätzlich wirksam. Sie können jedoch aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des Einigungsvertrages unvereinbar sind.
Ein von den DDR-Behörden erlassener Steuerbescheid ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, wenn er sich bei Würdigung seines Inhalts oder nach den seinen Erlass begleitenden Gesamtumständen als mutmaßlich politisch motivierte Willkürmaßnahme darstellt.
Normenkette
EVG Art. 19
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung von vor der Vereinigung Deutschlands bestandskräftig gewordenen Steuerbescheiden des ehemaligen Magistrats von Berlin, Abt. Finanzen und Steuern, nach Art. 19 des Einigungsvertrages -EinigVtr-. Die streitbefangenen Steuerbescheide waren gegen die damals in der DDR ansässigen und inzwischen verstorbenen Eheleute Dr. ... gerichtet und betrafen die Jahre 1968 bis 1977. Die Klägerin ist die Alleinerbin nach der am 15. Oktober 2002 verstorbenen Frau ... und deren am 7. April 1978 verstorbenen Ehemann.
Herr Dr. … war bis zu seinem krankheitsbedingten Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand im Jahre 1974 Chefarzt der Poliklinik des VEB "Narva" im beigetretenen Teil von Berlin und außerdem unstreitig einer der namhaftesten Kunst- und Antiquitätensammler der ehemaligen DDR. Frau war zunächst als Apothekenhelferin, später jedoch nicht mehr berufstätig.
Das Ehepaar floh im Jahre 1957 aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Herr Dr. arbeitete danach als Oberarzt im Ruhrgebiet. Die Familie fasste aber in der Bundesrepublik Deutschland nicht dauerhaft Fuß, sondern kehrte bereits zur Jahreswende 1960/1961 in die DDR zurück. Schon kurz danach sah sich Herr Dr. ... dem offenkundigen Verdacht des Ministeriums für Staatssicherheit ausgesetzt, für die Bundesrepublik Deutschland spionierend tätig zu sein. Er stand von da an ständig unter staatlicher Beobachtung, insbesondere wurden in den folgenden Jahren mindestens sechs "informelle Mitarbeiter" auf ihn angesetzt, um seine Lebensumstände und sein Umfeld auszukundschaften. Ein Schwerpunkt dieser Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit bezog sich darauf, die von Herrn Dr. angesammelten Antiquitäten und Kunstgegenstände zu sichten, um sie später für den Fiskus der DDR nutzbar zu machen.
Die Methoden der DDR, sich Sammlungen anzueignen, die wegen ihres Wertes, ihrer Seltenheit und ihrer Zusammensetzung von internationalem Interesse für die Kunst- und Antiquitätenbranche waren, waren Gegenstand des ersten Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (Bundestagsdrucksache12/4500). Die DDR hatte im Rahmen der bekannten sog. "Kommerziellen Koordinierung" ("KoKo") eigens für diesen Bereich eine Gesellschaft gegründet, die "Kunst- und Antiquitäten GmbH", die im Hinblick auf die Devisenbeschaffung für die Aneignung von Kunstgegenständen und Antiquitäten zuständig war. Der Untersuchungsausschuss befasste sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit den Methoden der DDR, Steuerverfahren zu Enteignungszwecken zu missbrauchen. Es wurde festgestellt, dass die DDR-Behörden in zahlreichen Fällen bewusste Verstöße gegen das materielle Steuerrecht, das Verfahrensrecht und das Vollstreckungsrecht in Kauf nahmen, um das dringende Interesse des Staates der Devisenbeschaffung verfolgen zu können. Die betroffenen DDR-Bürger wurden mutwillig als gewerblich tätige Händler qualifiziert und mit dieser Begründung wegen Steuerhinterziehung verfolgt. Auf der Grundlage von Schätzungsbescheiden mit extrem hohen willkürlichen Steuerfestsetzungen betrieben die DDR-Behörden schließlich das Zwangsvollstreckungsverfahren, das mit der Wegnahme und Verwertung der Kunstgegenstände und Antiquitäten endete.
Als exemplarischer Fall dieser Art wurde vor dem Untersuchungsausschuss u.a. auch das Steuerverfahren gegen Herrn Dr. ... behandelt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den 3. Teilbericht ... des ... Untersuchungsausschusses ... (Bundestagsdrucksache 12/4500), auf den der erkennende Senat Bezug nimmt, verwiesen.
Im einzelnen trug sich im Streitfall folgendes zu:
Im Februar 1978 leitete der Generalstaatsanwalt von Berlin (Ost) gegen Herrn Dr. ... ein Ermittlungsverfahren wegen Verkürzung von Steuern in einem schweren Fall (§ 176 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB/DDR) ein. Am 21. Februar 1978 wurde Herr Dr. vorläufig festgenommen und inhaftiert. Ca. sechs Wochen später, am 7. April 1978, verstarb Herr Dr. ... in der Untersuchungshaft. Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht geklärt. Er soll Selbstmord verübt haben, weder seiner Ehefrau noch anderen Personen wurden aber Obduktionsergebnisse oder sonstige Unterlagen zur Klärung der Urs...