Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkurrenz von Kindergeldansprüchen zwischen zwei EU/EWR-Staaten. Bindungswirkung von Verwaltungsakten anderer Staaten. Mitteilungspflichten des Kindergeldberechtigten bei Änderung der Verhältnisse. Steuerhinterziehung. Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Verordnung (EWG) 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern und die dazu ergangene Verordnung (EWG) 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) 1408/71 gehen als überstaatliches Recht der deutschen Rechtsordnung vor und sind in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Sie finden auch im Verhältnis zu EWR-Staaten (im Streitfall Norwegen) Anwendung.
2. Ein Konkurrenzkonflikt der jeweils einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften wird dahingehend gelöst, dass alle Personen, die von der Verordnung (EWG) 1408/71 erfasst werden, den Rechtsvorschriften ausschließlich eines Mitgliedstaates unterliegen (Ausschließlichkeitsprinzip).
3. Geht es um die Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften des anderen Mitgliedstaates, hat eine negative oder positive Entscheidung einer anderen Behörde mit Verwaltungsaktqualität für die deutschen Behörden insoweit grundsätzlich Tatbestandswirkung, d. h. der vorhandene Verwaltungsakt oder die Gerichtsentscheidung sind zu beachten, auch wenn die dort zugrunde gelegte Rechtsauffassung von der Rechtsauffassung der Familienkasse abweicht.
4. Der nach dem Kindergeldantrag als Kindergeldberechtigter bestimmte Vater ist verpflichtet, der Familienkasse mitzuteilen, wenn das Kind mit der Mutter aus dem gemeinsamen Haushalt auszieht. Ein mit (zumindest) bedingtem Vorsatz begangener Verstoß gegen die Mitteilungspflicht erfüllt den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO.
5. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, eine § 45 Abs. 2 SGB X entsprechende Vertrauensschutzregelung in das System steuerlicher Änderungsvorschriften und Aufhebungsvorschriften aufzunehmen.
Normenkette
EStG § 65 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, § 64 Abs. 1-2, § 70 Abs. 2; EWGV 574/72 Art. 10; EWGV 1408/71 Art. 13; AEUV Art. 288 Abs. 2; EWRAbk Art. 29; AO § 370 Abs. 1 Nr. 2, § 169 Abs. 2 S. 2; SGB X § 45 Abs. 2
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Kindergeldfestsetzung für die Tochter H, geboren am 16. Dezember 1997, zu Recht ab April 2000 aufgehoben und Kindergeld i.H.v. 16.919,05 EUR zurückgefordert wurde.
Die Agentur für Arbeit F – Familienkasse – (Beklagte) setzte auf den Antrag des von den Ehegatten als Kindergeldberechtigter bestimmten Klägers vom 16. Februar 1998 mit Verfügung vom 27. März 1998 Kindergeld für die Tochter H des Klägers fest. Nachdem der Kläger anlässlich eines Telefonats mit der Familienkasse vom 15. Juni 2009 beantragte, die Zahlung von Kindergeld einzustellen, da die Tochter schon länger nicht mehr in seinem Haushalt wohne, stellte die Familienkasse die Zahlung von Kindergeld ab Juli 2009 ein. Auf die Nachfrage der Familienkasse, teilte der Kläger am 17. Juli 2009 ergänzend mit, die Tochter lebe seit vier Monaten nicht mehr in seinem Haushalt, sondern bei ihrer Mutter, seiner früheren Frau, in B. Tochter und Mutter hätten die norwegische Staatsangehörigkeit. Die Mutter würde Kindergeld in Norwegen beziehen. In einem weiteren Telefongespräch vom 15. September 2009 unterrichtete er die Familienkasse darüber, dass die Tochter den Haushalt ca. im Jahr 2000/2001 verlassen habe.
Im Rahmen einer Vergleichsmitteilung durch die Familienkasse B vom 27. Oktober 2009 erfuhr die Familienkasse F, dass die Mutter von H dort einen Kindergeldantrag gestellt und bis 1. März 2009 Kindergeldleistungen aus Norwegen bezogen habe. Auf die Nachfrage bei der Mutter teilte diese am 6. Januar 2010 mit, dass sie im März 2000 mit der Tochter von M nach Norwegen gezogen sei. Sie sei seit Juli 2000 als Künstlerin selbständig in Norwegen tätig und habe dort bis 2003 gelebt. 2003 sei sie mit ihrer Tochter nach London gezogen, wo sie, die Mutter, ein Studium absolviert und in den Jahren 2003/2004 und 2005 bis 2007 jeweils einen Master-Abschluss erworben habe. Die Tochter sei nur im ersten Jahr bei ihr in London gewesen. Die übrige Zeit habe sie in Norwegen bei der Großmutter gelebt. Sie, die Mutter, sei alle zwei Monate nach Norwegen gefahren, um die Tochter zu besuchen und in Norwegen zu arbeiten. Nach einem kurzen Aufenthalt in B im Jahr 2008, seien sie im Februar 2009 ganz nach B gezogen. Von ihrem Ehemann lebe sie seit dem Jahr 2000 getrennt. Es habe in den Jahren bis 2009 jedoch einige Besuche gegeben.
Am 25. März 2010 erhielt die Familienkasse F von der Familienkasse B eine Kopie des Bescheids der norwegischen Behörden vom 21. September 2009 an die Mutter über die Einstellung der Kindergeldzahlung für H ab März 2009 und ein undatiertes Schreiben der Mutter. Auf den Bescheid und das Schreiben wird...