Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienwohnsitz und Inlandswohnsitz von Kindern
Leitsatz (redaktionell)
1. Minderjährige Kinder teilen grundsätzlich den Wohnsitz ihrer Eltern, weil sie über ihre Haushaltszugehörigkeit eine abgeleitete Nutzungsmöglichkeit besitzen und damit zugleich die elterliche Wohnung im Sinne des § 8 AO innehaben. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall, sondern hängt maßgeblich von den objektiven Umständen des Einzelfalls ab.
2. Lebt ein minderjähriges Kind im Ausland, kann davon ausgegangen werden, dass über das Rechtsinstitut des Familienwohnsitzes das „Innehaben einer Wohnung” durch einen Familienangehörigen vermittelt wird, wenn es um das „Beibehalten” eines bereits vorhandenen Wohnsitzes geht.
3. Dagegen kann ein im Ausland lebendes Kind im Inland grundsätzlich keinen Wohnsitz „begründen”, ohne sich zuvor hier aufgehalten zu haben.
4. Kinder, die sich zum Zwecke des Studiums für mehrere Jahre ins Ausland begeben, behalten ihren Wohnsitz in der inländischen elterlichen Wohnung nur dann bei, wenn sie diese in ausbildungsfreien Zeiten zum überwiegenden Teil nutzen. Dabei kommt der Dauer der Inlandsaufenthalte erhebliche Bedeutung zu.
5. Bei einer voraussichtlichen Rückkehr innerhalb eines Jahres liegt regelmäßig keine Aufgabe des Wohnsitzes vor.
Normenkette
EStG §§ 31, 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 6, § 70 Abs. 2-3; AO § 8
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Im November 2016 verkauften die Klägerin und der Kindesvater ([…] ET; der damalige Ehemann der Klägerin) ihr Haus in […] T-City (Australien, New South Wales) und zogen in die Eigentumswohnung der Klägerin in […] A-Stadt, H-Straße 124. In dem Kindergeldantrag vom 4. Januar 2017 für die gemeinsamen Kinder […] SU (geb. […] 2000), TU (geb. […] 2003), TA (geb. […] 2008) und CA (geb. […] 1998) gab die Klägerin an, die Kinder TU und TA würden Schulen in Australien besuchen und CA würde in Australien studieren. Als Wohnort der drei Kinder TU, TA und CA war L-Town (Australien, New South Wales) angegeben (TU, Kindergeldakte II Arbeitsversion, Blatt 2; ≪in der Folge zitiert, IIBlatt/Gesamtzahl Blätter, also: II2/112≫; TA II7/112; CA II11/112). Für SU war angegeben, dass sie bei den Eltern in A-Stadt wohne (II5/112).
Mit Bescheid vom 16. Januar 2017 (II17/112) setzte die Beklagte, die Familienkasse […] für SU Kindergeld ab November 2016 bis Juli 2018 fest. Mit Schreiben vom 16. Januar 2017 forderte die Beklagte die Klägerin auf, mitzuteilen, in welchem Haushalt die Kinder TU und TA leben (II20/112) und stellte Fragen zum Auslandsaufenthalt von CA (II22/112). Darauf teilte die Klägerin mit, dass die Kinder TU und TA in Australien zur Schule gehen würden und deshalb dort eine Wohnung angemietet und ein Haushalt eingerichtet worden sei; auch der Sohn CA wohne regelmäßig dort. Die Betreuung der minderjährigen Kinder TU und TA sei so organisiert, dass sie die großen Ferien (Dezember und Januar) mit den Eltern in Deutschland verbrächten. Die Klägerin verbringe drei bis vier Monate im Jahr in Australien und der Kindesvater verbringe aus beruflichen Gründen viel Zeit in Australien. Gelegentlich würden auch die Eltern der Klägerin nach Australien reisen, um Zeit mit den Enkeln zu verbringen. Im Übrigen seien auch Freunde und Verwandte des Kindesvaters für die Kinder da (II24/112). Für das Kind CA teilte die Klägerin mit, dass er sich hauptsächlich in Australien aufhalten werde und in den Sommerferien (Dezember und Januar) die beiden minderjährigen Kinder nach Deutschland begleiten werde und dann in der Familienwohnung in der H-Straße 124 wohne (II35/112). Mit Bescheid vom 20. Februar 2017 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für CA ab (II46/112). Mit weiterem Bescheid vom 20. Februar 2017 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für TU und TA ab Januar 2017 ab (II73/112), da beide Kinder weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hätten.
In dem weiteren, auf den 12. Juni 2017 datierten Kindergeldantrag (der am 3. Juli 2017 bei der Familienkasse einging) gab die Klägerin an, dass die Kinder TU und TA seit Juni 2017 über einen Wohnsitz in Deutschland verfügen würden und in ihrem Haushalt untergebracht seien (II76/112; II78/112, II 80/112). Dem Antrag waren Anmeldebestätigungen in A-Stadt für TU und TA vom 26. Juni 2017 mit dem Einzugsdatum […] Juni 2017 beigefügt (II82+83/112). Mit Bescheid vom 7. Juli 2017 setzte die Beklagte Kindergeld für TU und TA ab Juni 2017 (befristet bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) fest (II90/112). Aufgrund dieser Festsetzung wurde der Klägerin für TU und TA laufend Kindergeld gewährt. Mit Bescheid vom 29. Juni 2018 änderte die Familienkasse ab August 2018 die Höhe der Kindergeldfestsetzung für TU und TA (wegen des Wegfalls des Kindergeldes für SU) da sich die Ordnungszahl verändert hatte (II94/112). Nachdem die Familienkasse mit Bescheid vom 13. Juli 2018 ab August 2018 Kindergeld für SU festsetzte, änderte sie ab August 2018 auch die H...