Tenor
Ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil ist im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens streiten darüber, ob die im Oktober 1986 erteilte Zweite Teilbetriebsgenehmigung für das Kernkraftwerk B. rechtmäßig ist. Das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein hat die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage nach mündlicher Verhandlung am 13. und 14. Juni 1989 mit am 28. Juni 1989 verkündetem Urteil als unbegründet abgewiesen. Das Urteil ist vollständig abgefaßt und von allen Richtern unterschrieben am 11. Januar 1990 der Geschäftsstelle übergeben worden.
Der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts möchte das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein zurückverweisen. Er ist der Meinung, daß das Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, weil es erst mehr als fünf Monate nach seiner Verkündung vollständig abgefaßt und von allen Richtern unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden ist; nach Ablauf von fünf Monaten sei weder eine Übereinstimmung zwischen den tatsächlichen und den später niedergelegten Entscheidungsgründen noch deren Beurkundungsfunktion mit hinreichender Sicherheit gewährleistet. Da sich der 7. Senat an der beabsichtigten Entscheidung durch die Rechtsprechung anderer Revisionssenate des Bundesverwaltungsgerichts gehindert sah, hat er am 23. Mai 1991 beschlossen, dem Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen, ob ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
Der Große Senat möchte die Vorlagefrage bejahen. An einer solchen Entscheidung sieht er sich jedoch gehindert, weil er damit von der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes abweichen würde. Der Große Senat hat darauf hingewiesen, daß der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht in ihrer Rechtsprechung zu den dem § 138 Nr. 6 VwGO entsprechenden Vorschriften des § 119 Nr. 6 FGO und des in der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit Anwendung findenden §§ 551 Nr. 7 ZPO im wesentlichen darin übereinstimmten, daß mit der Revision anfechtbare Urteile, deren Gründe erst nach der Urteilsverkündung schriftlich niedergelegt würden, dann als nicht mit Gründen versehen zu werten seien, wenn zwischen der Verkündung des Urteils und der Absetzung seiner Gründe bzw. der Übergabe des nachträglich vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle ein Zeitraum von einem Jahr und mehr liege (BFHE 151, 328 ≪einen Fall der Zustellung an Verkündungs Statt betreffend≫; BAGE 38, 55 ≪56 ff.≫; BAG, Urteil vom 11. November 1986 – 3 AZR 228/86 – ≪BB 1987, 1394/1395≫; BSG, Urteil vom 22. Mai 1984 – 10 RKg 3/83 – ≪SozR 1750 § 551 ZPO Nr. 12≫). Bei kürzeren Verzögerungszeiten hänge die Annahme eines nicht begründeten Urteils dagegen nach dieser Rechtsprechung entweder – so die Judikatur des Bundesfinanzhofs und wohl auch des Bundesarbeitsgerichts – vom Vorliegen neben den Zeitablauf tretender besonderer, eine solche Annahme ausschlaggebend stützender Umstände (vgl. BFHE 151, 328 ≪330≫; BFH, Urteil vom 22. August 1989 – VIII R 215/85 – ≪BFH/NV 1990, 210≫; BAGE 44, 323 ≪328 f.≫; offengelassen jedoch in BAG, Urteil vom 9. März 1983 – 4 AZR 350/81 – ≪DB 1984, 1836≫) oder – so die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – von der Feststellung im Einzelfall ab, daß das Urteil infolge der Verzögerung die Verhandlungs- und Beratungsergebnisse nicht zutreffend wiedergebe (Urteil vom 22. Mai 1984 ≪a.a.O.≫). Der Bundesgerichtshof schließlich habe zu § 41 p Abs. 3 Nr. 5 des Patentgesetzes – PatG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1968 (BGBl. I S. 1) – jetzt § 100 Abs. 3 Nr. 5 PatG in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1980 (BGBl. I S. 1) – entschieden, daß ein mit Gründen versehener Beschluß des Bundespatentgerichts nicht schon deshalb wegen fehlender Begründung im Sinne der vorbezeichneten Regelung anfechtbar sei, weil die schriftliche Begründung erst längere Zeit – im damals zu beurteilenden Verfahren gut neuneinhalb Monate – nach der Verkündung zur Geschäftsstelle gelangt sei (Beschluß vom 7. Januar 1970 – I ZB 6/68 – ≪NJW 1970, 611≫).
Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern. Sie haben auf eine mündliche Verhandlung vor dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des ...