Leitsatz
Art. 5 Abs. 1 der 6. EG-RL ist dahin auszulegen, dass die Reprografietätigkeit die Merkmale einer Lieferung von Gegenständen aufweist, soweit sie sich auf eine bloße Vervielfältigung von Dokumenten auf Trägern beschränkt, wobei die Befugnis, über diese zu verfügen, vom Reprografen auf den Kunden übertragen wird, der die Kopien des Originals bestellt hat. Eine solche Tätigkeit ist jedoch als "Dienstleistung" i.S.v. Art. 6 Abs. 1 der 6. EG-RL einzustufen, wenn sich erweist, dass sie mit ergänzenden Dienstleistungen verbunden ist, die wegen der Bedeutung, die sie für ihren Abnehmer haben, der Zeit, die für ihre Ausführung nötig ist, der erforderlichen Behandlung der Originaldokumente und des Anteils an den Gesamtkosten, der auf diese Dienstleistungen entfällt, im Vergleich zur Lieferung von Gegenständen überwiegen, sodass sie für den Empfänger einen eigenen Zweck darstellen.
Normenkette
Art. 5 Abs. 1 der 6. EG-RL (§ 3 Abs. 1 und Abs. 9 UStG)
Sachverhalt
Die Reprografietätigkeit von Graphic Procédé bestand darin, mit eigenen Mitteln Kopien von Dokumenten, Akten und Plänen im Auftrag einer Kundschaft (u.a. Architekturbüros, Planungsbüros, Museen, Verlagen, Unternehmen der Stadtreklame und Ministerien) zu erstellen. Die Kunden von Graphic Procédé blieben Eigentümer der Originaldokumente, deren Vervielfältigung sie in Auftrag geben. Dem Conseil d'Etat fehlten Kriterien zur konkreten Frage, ob die Reprografie eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung darstellt?
Entscheidung
1. Der EuGH ging von einer einheitlichen Leistung aus, weil sich der wirtschaftliche Zweck nicht auf die bloße Vervielfältigung der Originaldokumente beschränke, sondern mit der Auswahl und Programmierung der Fotokopiergeräte, der Heftung, mit Binden der Dokumente und Ordnen der Kopien und der Übergabe an den Kunden verbunden sei. Die der Aushändigung dieser Kopien vorausgehenden Tätigkeiten der Zusammenstellung und des Ordnens seien für den Reprografen nur ein Mittel, den Kunden seine Leistung unter den bestmöglichen Bedingungen zugute kommen zu lassen.
2. Es könne sich um eine Lieferung handeln. Der Preis für die Reprografie bestimme sich nicht nach dem geistigen Wert des Originals, sondern nach den technischen Eigenschaften der anzufertigenden Kopien sowie der Zahl der bestellten Exemplare. Es seien aber alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen; insbesondere sei es möglich, dass sich die Tätigkeit eines Reprografen nicht auf den bloßen Abzug von einem Original beschränke, sondern im Zusammenhang mit verschiedenen ergänzenden Dienstleistungen wie der Beratung und der Anpassung, Umgestaltung und Verfremdung des Originals nach den Wünschen des Kunden zum Zweck der Erstellung von Kopien bestehe, die sich mehr oder weniger deutlich vom Originaldokument unterscheiden.
3. Der EuGH betont den Einzelfall und weist darauf hin, es sei Sache des vorlegenden Gerichts, die Abgrenzung vorzunehmen; dabei sei die Bedeutung der Leistungen für den Kunden zu berücksichtigen, sowie der Umfang der Behandlung des vom Kunden gelieferten Originaldokuments, die Zeit, die für die Erbringung dieser Leistungen benötigt wird, der Anteil an den Gesamtkosten, der auf sie entfällt. Danach sei zu prüfen, ob diese Leistungen als Tätigkeiten betrachtet werden können, die keineswegs gering oder nebensächlich sind und die im Vergleich zur Lieferung der abgezogenen Dokumente überwiegen, sodass sie über diese bloße Vervielfältigung hinaus für den Empfänger dieser Leistungen einen eigenen Zweck darstellen.
Hinweis
Der Fall betrifft die Abgrenzung Lieferung oder sonstige Leistung bzw. Dienstleistung bei Reprografien. Reprografie ist ein Sammelbegriff für alle Verfahren der dauerhaften lichttechnischen Reproduktion von Vorlagen. Dies umfasst das Scannen, Kopieren, Plotten und das Ausdrucken. Einen Teilbereich stellt die Reprofotografie dar. Neben der reinen Kopie bzw. dem Ausdruck von Dokumenten gehören zur gewerblichen Reprografie im gleichen Umfang die Weiter- und Endverarbeitung (Finishing). Konkret geht es um die Fragen: einheitliche Leistung und Lieferung oder Dienstleistung. Die Grundsätze sind geklärt; gleichwohl ist die Entscheidung im Einzelfall jeweils streitanfällig.
Zur Abgrenzung Lieferung oder Dienstleistung bedarf es einer Gesamtbetrachtung, bei der zu prüfen ist, ob in Anbetracht der charakteristischen Merkmale des in Rede stehenden Umsatzes mehrere selbstständige Hauptleistungen oder eine einheitliche Leistung vorliegt. Das kann angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte der EuGH nicht für jeden Lebenssachverhalt letztverbindlich entscheiden. Wird ihm eine Frage vorgelegt, kann er sie – jedenfalls nach der geltenden Verfahrensordnung – nicht unter Hinweis auf die geklärten Grundsätze zurückweisen.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 11.02.2010 – C-88/09 – Graphic Procédé –