Dr. Andreas Nagel, Dipl.-Finanzwirt Thomas Rennar
Eine zivilrechtliche Inanspruchnahme von Berufsträgern durch etwaige Schadensersatzansprüche ist gerade beim Erlass von Schätzungsbescheiden durch Veranlagungsversäumnisse & Co. praxisrelevant. Das OLG Karlsruhe (Urteil v. 6.9.2023, 7 U 162/22) hat daher zur Pflichtverletzung eines Berufsträgers im Schätzungsfall entschieden.
Hintergrund
Soweit die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann, hat sie diese zu schätzen. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind (§ 162 Abs. 1 AO). Eine Schätzung wegen Nichtabgabe der Steuererklärung ist hierbei insbesondere dann zulässig, wenn der Steuerpflichtige keine Steuererklärung abgibt und dadurch die sich ergebende Steuererklärungspflicht verletzt (BFH, Urteil v. 20.10.1993, II R 59/91, BFH/NV 1994, S. 176). Eine Schätzung ist der Finanzbehörde in diesen Fällen grds. auch nicht verwehrt, wenn Geschäftsunterlagen des Steuerpflichtigen, die er zur Erfüllung seiner Erklärungspflicht benötigt, beschlagnahmt worden sind (BFH, Beschluss v. 26.2.2010, VIII B 17/08, BFH/NV 2010, S. 1083).
Die Schätzung ist allerdings kein Zwangsmittel, um die Steuererklärungspflicht durchzusetzen. Ebenso wenig sind nach § 162 AO etwaige Strafschätzungen zulässig (BFH, Urteil v. 21.8.2019, X R 16/17, BStBl II 2020, S. 99). Das Finanzamt (FA) ist bei Nichtabgabe der Steuererklärung, wie auch in allen übrigen Schätzungsfällen, nur dann zur Schätzung befugt, wenn es die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Das FA muss daher den Steuerpflichtigen ernsthaft an die Abgabe der noch ausstehenden Steuererklärung erinnern (Koenig, AO, § 162, Rn. 53, m. w. N.).
Auf fristwahrende Erhebung von Einsprüchen gegen etwaige Schätzungsbescheide achten
In der Praxis kommt es häufig vor, dass Mandanten rechtswidrige Schätzungsbescheide formell bestandskräftig werden lassen. Anstelle eines oftmals erfolgsversprechenden Einspruchsverfahrens strengen Mandanten sodann oftmals ein vermeintlich mit mehr Erfolgsaussichten zu führendes Haftungsverfahren gegen den betreuenden Berufsträger an. Es ist daher bereits frühzeitig auf eine (präventiv) fristwahrende Erhebung von Einsprüchen gegen etwaige Schätzungsbescheide zu achten.
Streitsachverhalt
Streitgegenständlich waren etwaige Schadensersatzansprüche wegen behaupteter fehlerhafter steuerlicher Beratung im Zusammenhang mit einer Außenprüfung der Finanzverwaltung.
Der beklagte Berufsträger erstellte für die Klägerin – eine Diskothekenbetreiberin – für die Veranlagungszeiträume 2009 bis 2011 die Steuererklärungen und Gewinnermittlungen. Die Buchhaltung oblag nicht dem Beklagten, sondern wurde im Auftrag der Klägerin durch einen "Buchhaltungsservice" erledigt. Im Rahmen einer Betriebsprüfung der Streitzeiträume 2009 bis 2011 legte der Beklagte trotz mehrerer Aufforderungen seitens des FA die bei ihm vorhandenen Buchhaltungsunterlagen der Klägerin nicht vor. Das FA nahm daraufhin eine Schätzung vor, die u. a. zu einer Nacherhebung von Umsatzsteuer zzgl. Säumniszuschlägen und Zinsen in der als Schadensersatz eingeklagten Höhe führte. Die geänderten Steuerbescheide wurden bestandskräftig.
Die Klägerin machte geltend, sie habe weder Kenntnis von der Betriebsprüfung noch von der Aufforderung zur Vorlage von Unterlagen, die sich sämtlich beim Beklagten befunden hätten, gehabt. Auch die geänderten Steuerbescheide seien ihr vor Ablauf der Rechtsmittelfrist nicht bekannt gewesen. Der Beklagte sei mit der Begleitung der Betriebsprüfung betraut gewesen. Es handele sich insoweit um einen Beratungsfehler, da die Buchhaltung der Klägerin für die Streitjahre ordnungsgemäß sei.
Aktuelle Rechtsprechung
Das OLG Karlsruhe (a. a. O.) hat im vorliegenden Streitsachverhalt zur Berufsträgerhaftung beim Erlass von Schätzungsbescheiden entschieden.
Der Senat nimmt hierbei eine Pflichtverletzung des Steuerberaters an. Bereits aufgrund der Beweiswürdigung der Vorinstanz habe festgestanden, dass der Berufsträger mit der Betreuung der Klägerin im Verfahren über die Außenprüfung beauftragt und im Besitz ihrer Unterlagen gewesen war. Er hätte bei pflichtgemäßem Handeln die Klägerin auf seine Bedenken hinsichtlich der Gefahr der Hinzuschätzungen hinweisen müssen und weder eigenmächtig die Belege zurückhalten noch zu ihrer Nichtvorlage raten dürfen (OLG Karlsruhe, a. a. O.).
Verletzung einer Vertragspflicht
Der Beklagte habe die Buchführung der Klägerin zu Recht für unzureichend gehalten. Es fehlten Unterlagen, anhand derer man nachvollziehen könnte, wie sich die in der Buchhaltung eingetragenen Einnahmen zusammensetzen. Für die Grundaufzeichnungen der Buchhaltung war hingegen ausschließlich die Klägerin verantwortlich. Zu Recht hat der Beklagte Bedenken gehabt, dass die unzureichende Buchhaltung bei einer Außenprüfung akzeptiert werden würde, und befürchtet, dass es zu einer Ausweitung des Prüfungszeitraums kommen könne.
Diese Bedenken begründeten eine Beratungspflicht gegenüber der Klägerin und ermächtigten den B...