0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift wurde mit Wirkung zum 1.1.1997 durch Art. 1 § 90 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz (UVEG) v. 7.8.1996 (BGBl. I S. 1254) geschaffen. Er ersetzt die §§ 573 und 576 Abs. 3 und 4 RVO. Durch das 7. Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze v. 12.6.2020 (BGBl. I S. 1248) wurde die Regelung mit Wirkung zum 1.1.2021 vollständig neu gefasst.
1 Allgemeines
Rz. 2
Schon die bisherigen Regelungen über die Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) bei Versicherungsfällen vor oder während einer Ausbildung oder vor der Vollendung des 30. Lebensjahres sollten Härten vermeiden, die dadurch entstehen, dass Leistungen dauerhaft an ausbildungs- oder altersbedingt geringere Bezüge anknüpfen.
Entsprechend weicht auch die Neufassung von dem Grundsatz ab, wonach Leistungen sich nach dem bestehenden Lebensstandard unmittelbar vor dem Eintritt des Versicherungsfalles richten sollen (vgl. BSG, Urteil v. 27.2.1970, 2 RU 135/66; BSG, Urteil v. 31.10.1978, 2 RU 87/76) und bewirkt, dass etwa bei Personen, die bereits während ihrer Berufsausbildung einen Unfall erleiden, der höhere JAV der an die Ausbildung anknüpfenden Berufsausübung als Berechnungsgrundlage für Geldleistungen zu beachten ist.
2 Rechtspraxis
Rz. 3
Allerdings ist die Neuregelung nicht nur erheblich einfacher zu handhaben, da die Günstigkeitsregelungen in den Abs. 1 und 2 nun nicht mehr verlangen, dass die Unfallversicherungsträger im Rahmen von Billigkeitserwägungen Prognoseentscheidungen zu unterschiedlichen denkbaren Entwicklungen des Verunfallten treffen müssen, bei denen trotz oftmals hohen Ermittlungsaufwandes aus Sicht der Gesetzgebung nicht selten fehlende Zielgenauigkeit zu verzeichnen war. Schließlich ergeben sich bei der Ermittlung eines fiktiven aber möglichst konkreten Ausbildungs- und Berufsverlaufs erhebliche praktische Probleme. Dies zeigt sich vor allem bei Versicherungsfällen zu Zeitpunkten, in denen eine Berufswahl noch in weiter Zukunft liegt. Künftig zu erwartende Verdienstmöglichkeiten, insbesondere nach Abschluss eines Studiums oder bei der Ermittlung des maßgeblichen fiktiven JAV aus einer Vielzahl unterschiedlich strukturierter Tarifverträge weichen somit meist erheblich von den prognostizierten der Berufsgenossenschaft ab. Entsprechend sollen mit der Neuregelung unbefriedigende Ergebnisse vermieden werden (BR-Drs. 2/20 S. 120).
Rz. 4
Verfahrensvereinfachend haben sich die Unfallversicherungsträger nunmehr lediglich bei der Neufestsetzung des JAV an der Bezugsgröße gemäß § 18 SGB IV zu orientieren. Die Bezugsgröße i. S. d. Vorschrift ist, soweit in den besonderen Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige nichts Abweichendes bestimmt ist, das Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung im vorangegangenen Kalenderjahr, aufgerundet auf den nächst höheren, durch 420 teilbaren Betrag.
Die Bezugsgröße liegt 2023 für die alten Bundesländer bei 40.740,00 EUR jährlich (3.395,00 EUR monatlich). Für das Beitrittsgebiet liegt sie bei 39.480,00 EUR jährlich (3.290,00 EUR monatlich). Der Höchst-JAV liegt 2023 bei 81.480,00 EUR (2-fache der Bezugsgröße der alten Bundesländer). Dieser kann gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 in der Satzung höher bestimmt werden; vgl. insoweit die Komm. in Rz. 8 und 9 zu § 85.
Rz. 5
Die Vorschrift fängt die von § 91 nicht erfassten Fälle auf. Sie ist somit einschlägig bei Auszubildenden und Studierenden, die nach Vollendung des 25. aber vor dem 30. Geburtstag einen Unfall erleiden sowie bei allen Schülern, die vor Vollendung des 30. Lebensjahres verunfallen (vgl. dazu die Komm in Rz. 8 zu § 91).
Rz. 6
Abs. 3 bestimmt die Neufestsetzung des JAV gemäß Abs. 1 und 2 auch für Soldaten und Soldatinnen (Wehrpflichtige sowie Soldaten und Soldatinnen auf Zeit), Zivildienstleistende, Entwicklungshilfe Erbringende, im Zivilschutz Tätige sowie Versicherte, die Freiwilligendienst leisten (§ 82 Abs. 2 Satz 2).
3 Literatur und Materialien
Rz. 7
Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, § 90 Rz. 2.
BR-Drs. 2/20 S. 120.