Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 20
Als Tathandlung setzt § 370 AO voraus, dass der Täter der FinB über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht (Abs. 1 Nr. 1), sie pflichtwidrig über solche Tatsachen in Unkenntnis lässt (Abs. 1 Nr. 2) oder aber pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt (Abs. 1 Nr. 3). Als Taterfolg müssen dadurch entweder Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt werden. Damit ist deutlich, dass die Frage nach dem Vorliegen dieser Merkmale ohne das Steuerrecht schlechthin nicht beantwortet werden kann. Ob ein Steuerverkürzungserfolg eingetreten ist, lässt sich bspw. ohne das jeweils einschlägige Einzelsteuergesetz nicht sagen.
Rz. 21
Daraus wird abgeleitet, dass es sich bei § 370 Abs. 1 AO und den sonstigen Tatbeständen des Steuerstrafrechts um sog. Blankettvorschriften handelt: Zwar werden Strafdrohungen aufgestellt, hinsichtlich der mit Strafe bedrohten Handlung wird jedoch auf andere Rechtsnormen verwiesen. Ein Blankettstraftatbestand ist inhaltlich unvollständig und muss durch die rechtliche Regelung, auf die verwiesen wird, ergänzt werden. Diese anderen, "ausfüllenden" Normen enthalten die Voraussetzungen, an welche die Strafdrohung der Blankettvorschrift (= "ausfüllungsbedürftige Norm") anknüpft. So formuliert das BVerfG, dass der Begriff der Steuerverkürzung "blankettartig" auf die Einzelsteuergesetze verweise bzw. dass es sich bei § 370 Abs. 1 AO um eine Blankettstrafnorm handele, die durch die Vorschriften der AO und die der Einzelsteuergesetze ausgefüllt werde. Dazu gehören auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Einzelsteuergesetze.
Rz. 22
Der BGH sieht bei einem Blankettstrafgesetz den Tatbestand und die Strafandrohung derart voneinander getrennt, "dass die Ergänzung der Strafdrohung durch einen zugehörigen Tatbestand von einer anderen Stelle und zu einer anderen Zeit selbständig vorgenommen wird". Erst mit der Ausfüllungsnorm soll der Tatbestand des Blankettgesetzes vollständig sein. Das Steuerstrafrecht sei ein solches Blankettstrafrecht; der Unterschied zu anderen Straftatbeständen liege darin, dass erst das Blankettstrafgesetz und die blankettausfüllende Norm gemeinsam die maßgebliche Strafvorschrift bildeten. An anderer Stelle hat der BGH die Frage, ob es sich bei § 370 AO um eine Blankettnorm handelt, allerdings ausdrücklich offengelassen und auf die Möglichkeit verwiesen, dass eine für sich vollständige Strafnorm vorliegen könne, die mithilfe der geltenden außerstrafrechtlichen Gesetze auszulegen sei.
Rz. 23
Aus der bloßen Benennung eines Straftatbestands als Blankettvorschrift, blankettartige Norm oder als in sich geschlossene, vollständige Norm folgt jedoch noch nichts, vielmehr ist der Problemzusammenhang zu beachten, in dem die Abhängigkeit des Strafrechts von einem anderen Rechtsgebiet relevant wird. Das folgt schon daraus, dass der Begriff des Blankettstraftatbestands seinerseits nicht einheitlich verwendet, sondern zum Teil weiter ausdifferenziert wird, wenn bspw. Blankette im engeren und weiteren oder im klassischen Sinn unterschieden werden.
Rz. 24
Vor allem geht es um ganz unterschiedliche Sachprobleme, die nicht durch den schlichten Hinweis auf den Blankettcharakter einer Norm gelöst werden können: Das sind zum einen Fragen des Gebots gesetzlicher Bestimmtheit nach Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG (s. Rz. 25 ff.). Damit in Zusammenhang steht die Frage nach der zeitlichen Geltung eines Blankettstraftatbestands nach § 2 Abs. 3 und 4 StGB, um zu klären, was unter der Änderung des "Gesetzes" nach § 2 Abs. 3 StGB zu verstehen und welches Gesetz als das mildere anzusehen ist, wenn die steuerliche Norm geändert wird oder die Steuerpflicht ganz entfällt (s. Rz. 60 ff.). Hinzu kommen für die subjektive Tatseite die Frage, wie ein Irrtum über die Steuerrechtslage zu behandeln ist (s. Rz. 658 ff.), Probleme, die die Anwendung ausländischen Rechts betreffen, und die Frage nach der Geltung des Grundsatzes in dubio pro reo. Ob man § 370 AO damit als Blanketttatbestand, als blankettartigen oder als vollständigen Tatbestand bezeichnet, ist gleichgültig. Die Sachprobleme, die sich aus der Abhängigkeit von steuerrechtlichen Vorfragen ergeben, sind im Einzelnen im jeweiligen Sachzusammenhang zu lösen.