Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 90
Aus dem Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO folgt für diese Tatalternative keine Nr. 2 und 3 entsprechende Beschränkung des Täterkreises auf besondere Pflichtenträger. Jeder, der falsche oder unvollständige Angaben macht, kann vielmehr nach dem Gesetzeswortlaut den Tatbestand verwirklichen. Allerdings könnte der systematische Zusammenhang zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO für eine Beschränkung des Täterkreises auf diejenigen streiten, die verpflichtet sind, steuerliche Angaben zu machen. Denn wenn die Strafbarkeit nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO voraussetzt, dass der Täter verpflichtet ist, über steuerlich erhebliche Tatsachen Angaben zu machen, dann kann man daran denken, dass das Gleiche auch für denjenigen gilt, der i.S.d. Nr. 1 unvollständige Angaben macht: Wer unvollständige Angaben macht, unterlässt es, vollständige Angaben zu machen. Das begründet aber nur dann einen Unrechtsvorwurf, wenn er überhaupt dazu verpflichtet ist, Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen zu machen. So geht auch der BGH davon aus, dass dann, wenn eine Organgesellschaft keine Umsätze melden muss, weil diese als Umsätze des Organträgers gelten, fehlende Umsätze in der Erklärung der Organgesellschaft nicht zu falschen oder unvollständigen Angaben führen. Wäre aus diesem Grund als tauglicher Täter nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AO wie bei Abs. 1 Nr. 2 allein der Erklärungspflichtige anzusehen, spräche alles dafür, für die 1. Tatalternative des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO genauso zu entscheiden. § 370 Abs. 1 AO wäre dann insgesamt einheitlich als Sonderdelikt anzusehen.
Rz. 91
Überzeugend ist eine solche Argumentation letztlich aber nicht, so dass § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO anders als Abs. 1 Nr. 2, 3 als Allgemeindelikt anzusehen ist. Die Möglichkeit, gegenüber den in § 370 Abs. 1 AO genannten Behörden unrichtige oder unvollständige Angaben zu machen, hat nicht nur derjenige, der erklärungs- oder mitwirkungspflichtig ist, sondern jeder, der rein tatsächlich dazu Gelegenheit hat. Wer zwar nicht selbst erklärungspflichtig ist, gleichwohl durch seine Erklärungen aber den steuerlichen Verkürzungserfolg herbeiführen kann, kann zwar nicht deshalb strafbar sein, weil er steuerlich erhebliche Angaben unterlässt. Führt er aber durch seine falschen Angaben den Erfolg tatsächlich herbei, kommt ihm die Herrschaft über den Erfolg zu. Wenn er (überhaupt) für einen anderen steuerlich erhebliche Angaben macht, dann hat er die Pflicht, vollständige Angaben zu machen. Insofern setzt also auch der steuerlich eigentlich nicht zu Angaben Verpflichtete ein rechtlich missbilligtes Risiko, wenn er sie unvollständig macht. Die Abgabe unvollständiger Erklärungen ist damit im Ergebnis nicht mit dem völligen Unterlassen von Angaben gleichzustellen.
Beispiel 4
A stellte der Firma S-GmbH manipulierte Rechnungen aus, in denen zum Schein überhöhte Kosten ausgewiesen waren. Die Mehrwertsteuerbeträge dieser Rechnungen gingen über den Vorsteuerabzug in die Umsatzsteuererklärungen der Firma S ein. Die Nettobeträge der manipulierten Rechnungen wurden von der Firma S als Betriebsausgaben verbucht. Die überhöhten Kosten führten zur Minderung des Gewinns und damit zu einer Verringerung des für die Veranlagungssteuern maßgeblichen Einkommensbetrags.
Der BGH geht davon aus, dass A als Mittäter einer Umsatzsteuerhinterziehung in Tateinheit mit einer mittäterschaftlichen Hinterziehung von Ertrag- und Gewerbesteuer anzusehen ist. Der Annahme einer täterschaftlichen Verwirklichung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO steht jedenfalls nicht entgegen, dass A nicht selbst für die Firma S-GmbH steuerlich erklärungspflichtig ist. Zur Mittäterschaft s. Rz. 113 ff.
"Denn Mittäter einer Steuerhinterziehung kann auch sein, wer selbst weder Steuerschuldner noch sonst Steuerpflichtiger in Bezug auf die hinterzogenen Steuern ist (vgl. BGH v. 27.1.1953 – 2 StR 558/52, BGHSt 4, 36, 39 f.; BGH v. 22.4.1983 – 3 StR 420/82, BGHSt 31, 323, 347 [= wistra 1983, 192]). Das folgt daraus, dass die Steuerhinterziehung – jedenfalls in der Form des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 – kein Sonderdelikt ist [...]".
Rz. 92
Diese Regel ist freilich in tatsächlicher Hinsicht zu ergänzen. Faktisch wird eine Person nur in sehr engen Grenzen ohne entsprechende rechtliche Verpflichtung steuerlich erhebliche Angaben für andere machen (können), die den Verkürzungserfolg herbeiführen. In aller Regel dürften insofern nur steuerliche oder rechtliche Berater bzw. Mittäter infrage kommen. Zur Täterschaft von Finanzbeamten s. Rz. 581 ff.; 1101 ff.
Rz. 93
Gleichgültig ist es deshalb auch, ob der für den Stpfl. Handelnde im Innenverhältnis gegenüber diesem zum Handeln berechtigt war oder nicht. Reicht ein Buchhalter die von ihm unterschriebenen Lohn- oder Umsatzsteuervoranmeldungen dem FA ein, obwohl ihm vom Unternehmer keine Vollmacht erteilt wurde, so ist der Buchhalter trotzdem Täter einer Steuerhinterziehung, wenn er falsche oder unvollständige Angaben macht, die zu einer Steuerverkürzung ...