Rz. 46
Wegen des Ausnahmecharakters und der immanenten Gründe des § 371 AO bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung nach h.M. keine Bedenken.
Rz. 47
Das AG Saarbrücken hatte in seinem Vorlagebeschluss vom 2.12.1982 die Ansicht vertreten, § 371 Abs. 1 und 3 AO verstieße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 20 GG: § 371 Abs. 1 AO liege eine sachwidrige Differenzierung zugrunde. Die Wiedergutmachung des durch einen Straftäter angerichteten Schadens sei kein sachgerechter Grund, davon die Straffreiheit abhängig zu machen. Die Privilegierung ausschließlich des Steuerhinterziehers gegenüber allgemeinen Straftätern (etwa Betrügern) entspreche nicht dem grundgesetzlichen Wertmaßstab der Sachgemäßheit und der materiellen Gerechtigkeit, weil § 371 AO aus finanziellen und fiskalischen Erwägungen heraus geschaffen worden sei. Auch werde durch die Nachzahlungspflicht der zahlungskräftige gegenüber dem finanziell schwachen Täter benachteiligt.
Rz. 48
Das BVerfG hielt die Vorlage des AG Saarbrücken für unzulässig und führte zur Sache selbst nur aus, dass die Tatsache, dass "der Gesetzgeber bei anderen Strafvorschriften keine Möglichkeit einer strafbefreienden Selbstanzeige geschaffen hat, [...] nicht die Gültigkeit einer solchen Norm im Steuerstrafrecht" berühre.
Rz. 49
Auch der BGH hat in seiner Entscheidung vom 13.5.1983 die Auffassung des AG Saarbrücken ohne nähere Begründung abgelehnt.
Rz. 50
Dem ist zuzustimmen. Verfassungsmäßige Bedenken gegen die Regelung bestehen nicht. Die Entscheidung des Gesetzgebers bedarf wegen der aufgezeigten Gründe nicht der Rechtfertigung. Zudem ist mittlerweile der Aspekt der Schadenswiedergutmachung auch im allgemeinen Strafrecht (speziell bei Vermögensdelikten) ein anerkannter und in § 46a StGB (Täter-Opfer-Ausgleich) kodifizierter Grund, von Strafe abzusehen bzw. sie zu mildern. Gleiches gilt für die § 371 AO entsprechenden Bestimmungen der § 266a Abs. 5, § 261 Abs. 8 StGB.
Rz. 51
Es besteht keine Pflicht zur Selbstanzeige. Die Berichtigungspflicht gem. § 153 AO trifft grundsätzlich nicht den Stpfl., der vorsätzlich unrichtige Angaben gemacht hat (vgl. Rz. 813). Damit verstößt § 371 AO auch nicht gegen den verfassungsrechtlich verankerten Nemo-tenetur-Grundsatz, vielmehr ist durch die Regelung selbst eine gesetzliche Vorkehrung gegeben, trotz der fortbestehenden Pflicht zu vollständiger und wahrheitsgemäßer Auskunft Strafbefreiung zu erlangen. Eine Ausnahme besteht bei bedingt vorsätzlichem Handeln. Insoweit stellt der Anwendungserlass zu § 153 AO klar, dass eine Anzeige- und Berichtigungspflicht nach § 153 Abs. 1 AO auch dann besteht, wenn der Stpfl. die Unrichtigkeit seiner Angaben bei der Abgabe der Steuererklärung nicht gekannt, sie aber billigend in Kauf genommen hat und später zu der Erkenntnis gelangt ist, dass seine Angaben tatsächlich unrichtig waren. In diesem Fall habe der Stpfl. zunächst nur mit der Unrichtigkeit der Angaben gerechnet, sie aber nicht sicher gekannt. Um dem Nemo-tenetur-Grundsatz gerecht zu werden, stellt der Anwendungserlass in Nr. 5.2. klar, dass eine Anzeige in diesen Fällen unverzüglich ist, "wenn dem Steuerpflichtigen die Befolgung dieser Pflicht zumutbar ist." Für die Anzeige nach § 153 AO sei dem Stpfl. die gleiche Zeitspanne zuzugestehen, wie er zur Aufbereitung einer Selbstanzeige nach § 371 AO benötigt hätte.