Rz. 220
Mit Ausnahme der Fälle des § 371 Abs. 2a AO gilt für Selbstanzeigen das Alles-oder-nichts-Prinzip. Entgegen der Rechtslage bis zum 28.4.2011 (§ 371 AO a.F., s. Rz. 210 ff.) bleibt bei einer Teilselbstanzeige die Straffreiheit nicht mehr im Umfang der Nacherklärung erhalten. Damit kommt der Frage, wie geringfügige Abweichungen zu qualifizieren sind bzw. wann eine Abweichung noch als geringfügig anzusehen ist, erhebliche Bedeutung zu.
Rz. 221
Auch für § 371 AO i.d.F. nach Inkrafttreten des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes ist in der Literatur anerkannt, dass auch nach der Neufassung des § 371 AO geringfügige Abweichungen ohne Einfluss auf die Wirksamkeit der Selbstanzeige bleiben. Der BGH hat ebenfalls anerkannt, dass geringfügige Abweichungen unter bestimmten Voraussetzungen unschädlich sind.
Rz. 222
Dieses Ergebnis – dem zweifelsohne zuzustimmen ist – ist nach dem Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO nicht ohne weiteres zwingend, da die vollständige Berichtigung der unrichtigen Angaben verlangt wird. Bleiben die berichtigten Angaben auch nur in geringem Umfang hinter den tatsächlich erzielten Einkünften zurück, war die Berichtigung de facto nicht vollständig. So war bereits nach der Entscheidung des BGH vom 20.5.2010 fraglich, ob bei einer nur geringfügigen Abweichung einer Selbstanzeige auf Schätzungsbasis unter dem Hinweis auf die faktische Unvollständigkeit der Angaben die Wirksamkeit abzusprechen ist.
Rz. 223
Gegen die Beachtlichkeit geringfügiger Abweichungen streitet die Entstehungsgeschichte des § 371 Abs. 1 AO i.d.F. des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes. In den Beratungen des Finanzausschusses des Bundestages zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz haben die Koalitionsfraktionen verdeutlicht, dass Bagatellabweichungen wie bisher nicht zur Unwirksamkeit der Selbstanzeige als solcher führen sollen. So heißt es, dass die in § 371 Abs. 1 AO gewählte Formulierung "in vollem Umfang" nicht bedeute, dass nunmehr im praktischen Vollzug jede Selbstanzeige auf Euro und Cent genau deckungsgleich mit der am Ende des Verfahrens von der FinB festzusetzenden Steuer sein müsse. Vielmehr müssten im praktischen Vollzug wie bisher Unschärfen hingenommen werden. Für die Unbeachtlichkeit geringfügiger Abweichungen spricht zudem, dass der Stpfl. bei einer nur geringfügigen Abweichung regelmäßig die vollständige Rückkehr in die Steuerehrlichkeit beabsichtigte, was ihm bspw. aufgrund des Fehlens entsprechender Unterlagen nur zunächst nicht gelungen ist. Eine diesbezügliche Klarstellung ist bedauerlicherweise auch nicht durch die Gesetzesänderung zum 1.1.2015 durch das AOÄndG 2015 erfolgt.
Rz. 224
Die Frage, welcher Maßstab für die Rechtsfrage gilt, ob Differenzen der Angaben in einer Selbstanzeige gegenüber wahrheitsgemäßen Angaben nur geringfügig sind, war durch den BGH bis zu der Entscheidung vom 25.7.2011 nicht entschieden.
Bis dato wurde regelmäßig eine alte Entscheidung des OLG Frankfurt zur Beantwortung jener Frage herangezogen. Das OLG Frankfurt erachtete eine Umsatzdifferenz von nicht ganz 6 % als unmaßgeblich. Allgemein galt als Faustformel, dass eine Differenz von 10 % der Besteuerungsgrundlagen geringfügig ist und die vollumfängliche Strafbefreiung nicht beeinträchtigt.
Rz. 225
Der BGH richtet die Geringfügigkeitsgrenze nunmehr am Verkürzungsbetrag und nicht an den Besteuerungsgrundlagen aus. Zudem senkt er die Toleranzgrenze unter die bislang in Literatur und Rspr. vertretenen Werte. Nach Ansicht des BGH ist jedenfalls eine Abweichung von mehr als 5 % vom Verkürzungsbetrag i.S.d. § 370 Abs. 4 AO nicht mehr geringfügig. Hierbei ist zu beachten, dass sich jene Toleranzgrenze selbstverständlich nur auf vorsätzliche Unrichtigkeiten bezieht, da nur diese den Maßstab für die Beurteilung der Vollständigkeit einer Selbstanzeige bilden. Allerdings führt nach Ansicht des Senats nicht jede Abweichung unterhalb dieser Grenze stets zur Annahme einer unschädlichen geringfügigen Differenz. Bei Abweichungen unter 5 % soll vielmehr eine Gesamtwürdigung vorgenommen werden. Diese kann je nach Fallgestaltung dazu führen, dass auch unterhalb der Abweichungsgrenze von 5 % die Straffreiheit zu versagen ist. In diese Bewertung sollen die relative Größe der Abweichungen im Hinblick auf den Verkürzungserfolg sowie insb. die Umstände, die zu der Abweichung geführt haben, einbezogen werden. Der BGH betont, dass namentlich zu berücksichtigen ist, ob es sich um eine bewusste Abweichung handelt oder – etwa bei einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen – in der Selbstanzeige trotz der vorhandenen Abweichungen noch die Rückkehr in die Steuerehrlichkeit gesehen und honoriert werden kann. Nach diesen Maßstäben dürften bewusst vorgenommene Abweichungen i.d.R. nicht als geringfügig anzusehen sein, da sie nicht vom Willen zur vollständigen Rückkehr zur Steuerehrlichkeit getragen sind. Die Finanzverwaltung schließt die Anwendung der Geringfügigkeitsgr...