Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1315
Das Strafprozessrecht verwendet einen eigenständigen prozessualen Begriff der Tat, nach dem sich vor allem der Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung und Urteilsfindung und – damit verbunden – der Umfang der Rechtskraft richten (vgl. § 155 Abs. 1, § 264 StPO). Er ist grds. unabhängig vom materiellen Tatbegriff des Strafzumessungsrechts (s. dazu § 370 Rz. 860 ff.).
§ 264 StPO Gegenstand des Urteils
(1) Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt.
(2) Das Gericht ist an die Beurteilung der Tat, die dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde liegt, nicht gebunden.
Rz. 1316
Dieser sog. prozessuale Tatbegriff legt den Prozessgegenstand im (Steuer-)Strafverfahren fest und ist damit entscheidend für die Rechtshängigkeit der Strafklage und den Strafklageverbrauch einer rechtskräftigen abschließenden Entscheidung (also Urteil, Strafbefehl oder endgültige Einstellung nach Erfüllung von Auflagen, § 153a Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 StPO), denn der Strafklageverbrauch reicht nur so weit wie die Aburteilungsbefugnis des Gerichts aufgrund der Anklage und des Eröffnungsbeschlusses in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.
Rz. 1316.1
Der Anklage kommt insofern entscheidende Bedeutung zu (s. Rz. 593 f., 623, 628 ff.). Dabei ist streng zu unterscheiden zwischen der "bloßen" Informationsfunktion des Anklagesatzes (§ 200 Abs. 1 Satz 1 StPO) und seiner Umgrenzungsfunktion im Sinne einer zweifelsfreien Individualisierbarkeit und Abgrenzbarkeit der von § 264 Abs. 1 StPO ins Zentrum des Strafverfahrens gerückten prozessualen Tat. Zur Unwirksamkeit einer Anklage wegen Mängeln ihrer Umgrenzungsfunktion s. Rz. 623. Mängel der Informationsfunktion berühren die Wirksamkeit der Anklage nach der Rspr. dagegen nicht und können in der Hauptverhandlung durch Hinweise gem. § 265 StPO (analog) geheilt werden.
Rz. 1316.2
Die Umgrenzungsfunktion der Anklage steht in einem engen Verhältnis zum Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem). Nach dem sog. Ne-bis-in-idem-Grundsatz (Art. 103 Abs. 3 GG) darf niemand wegen derselben Tat (in diesem Sinne verstanden) mehrmals bestraft (bzw. verfolgt) werden (s. Rz. 755 ff.). Im Prozess wirkt sich dies als Verfahrenshindernis aus, das zur Einstellung des Strafverfahrens führt (vgl. §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO). Mit der Revision kann geltend gemacht werden, dass eine Tat oder der Teil einer Tat abgeurteilt worden ist, der nicht Gegenstand des angeklagten Verfahrens ist.
Rz. 1317
Wichtig ist dieser Tatbegriff aber auch im Hinblick auf die Verjährung der Tat gem. § 78c StGB i.V.m. § 171 Abs. 5 AO (verjährungsunterbrechende Wirkung von Durchsuchungsbeschlüssen, s. § 376 Rz. 66 ff., Haftbefehlen sowie der Einleitung oder Bekanntgabe des Steuerstrafverfahrens, s. § 393 Rz. 106 ff.; § 397 Rz. 53), für die Verfolgungskompetenz der FinB i.S.d. § 386 Abs. 2 AO (s. Rz. 95 ff.; § 386 Rz. 68, 92 ff.) und für das Auskunftsverweigerungsrecht des Stpfl. gem. § 393 AO (s. § 393 Rz. 106 ff.).
Rz. 1318
Der Begriff der "Tat" entscheidet auch bei einer Selbstanzeige gem. § 371 AO über die Reichweite der Sperrgründe des § 371 Abs. 2 AO sowie über die Vollständigkeit der Selbstanzeige als Wirksamkeitserfordernis (zur Unzulässigkeit einer Teilselbstanzeige nach neuem Recht s. § 371 Rz. 200 ff.). Im Vergleich der Vorschrift des § 370 AO zu § 371 AO wird jedoch der Tatbegriff unterschiedlich beurteilt. Nach hier vertretener Ansicht gilt bei der Selbstanzeige als Strafausschließungsgrund der materiell-rechtliche Tatbegriff (für einen strafprozessualen Begriff aber die Rspr., s. dazu § 371 Rz. 214, 248, 249, 615, 643 ff. m.w.N.).