Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1053
Ob ein strafprozessuales BVV eine Fernwirkung dergestalt entfaltet, dass davon auch mittelbare, erst aufgrund der unverwertbaren Beweiserhebung bekannt gewordene Beweismittel erfasst sind, ist äußerst umstritten und wird hauptsächlich bei Verstößen gegen die strafprozessualen Belehrungspflichten diskutiert. Speziell zum Steuerstrafrecht s. § 393 Rz. 175 ff., 230 ff., 265.
Beispiel
Der Stpfl. hat bei seiner ersten Vernehmung durch die Steufa, ohne über die Einleitung des Strafverfahrens informiert worden zu sein, eingeräumt, dass er Zinseinnahmen von einem geheim gehaltenen Sparkonto bezogen und nicht versteuert habe.
Die unterlassene strafrechtliche Belehrung (§ 163a Abs. 4 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO) führt zu einem Verwertungsverbot. Fraglich ist, ob die Steufa aufgrund dessen daran gehindert ist, Auskunft von der Bank des S bzw. die Herausgabe der entsprechenden Unterlagen zu verlangen oder sie zu beschlagnahmen.
Rz. 1054
Im Gegensatz zu der sog. "fruit of the poisonous tree doctrine" des amerikanischen Rechts kennt die deutsche Strafprozessordnung einen derartigen Grundsatz nicht. Dennoch befürwortet ein beachtlicher Teil der Lehre und zum Teil auch die Rspr. eine Fernwirkung von Beweisverboten aus rechtsstaatlichen und rechtsethischen Gründen. Die überwiegende Gegenansicht lehnt eine Fernwirkung grds. ab und weist auf die unerträglichen kriminalpolitischen Folgen der gegenteiligen Auffassung hin.
Rz. 1055
Der BGH hat eine Fernwirkung bislang unter engen Voraussetzungen nur bei dem BVV des § 7 Abs. 3 G 10-Gesetz angenommen, dies allerdings unter der Einschränkung, dass es eine allgemeine Regel, wann ein Verwertungsverbot über das unmittelbare Beweisergebnis hinauswirke bzw. wo seine Grenze zu ziehen sei, nicht gebe, vielmehr je nach Sachlage und Art des Verbots eine Abwägung zwischen Aufklärungsinteresse und Individualinteresse geboten sei.
Rz. 1056
Die Entscheidungen des BVerfG lassen die Interpretation zu, dass unter gewissen Umständen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes BVV im Einzelfall Fernwirkung zukommen kann.
Rz. 1057
Soweit der BGH aufgrund des Nemo-tenetur-Prinzips ein strafprozessuales Verwendungsverbot bei Gefahr der mittelbaren Selbstbelastung für nicht strafbefangene Veranlagungszeiträume anerkannt hat, kommt zumindest dieser Erkenntnisquelle Fernwirkung zu (s. § 393 Rz. 106 ff. m.w.N.; s. auch Nr. 16 Abs. 2 Satz 3, 4 AStBV (St) 2020; s. AStBV Rz. 16).
Rz. 1058
Im Steuerstrafrecht wird z.B. eine Fernwirkung vom überwiegenden Schrifttum im Fall des § 393 Abs. 2 Satz 1 AO befürwortet (s. § 393 Rz. 230 ff.).
Rz. 1059
Eine Fernwirkung ist zudem in Übereinstimmung mit der überw. Ansicht in der Literatur für den Fall der willkürlich unterlassenen strafrechtlichen Hinweis- und Belehrungspflichten der § 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 4 Satz 2, § 393 Abs. 1 Satz 4, § 397 Abs. 3 StPO anzunehmen (s. Beispiel in Rz. 1053), da zum einen die (z.B. bei der Bank) erlangten Beweismittel mit dem Makel der verbotswidrigen Herbeiführung der Aussage des Beschuldigten behaftet sind, der allein durch die völlige Eliminierung aus der Welt geschafft werden kann, und zum anderen auch nur auf diese Weise auf das Verhalten der Strafverfolgungsorgane der Finanzverwaltung disziplinierend eingewirkt werden kann, denen es ansonsten nur zu leicht fiele, sich auf die Unbeachtlichkeit eines etwaigen verbotswidrigen Verfahrensverstoßes einzustellen, ja ihn sogar mit ins Kalkül zu ziehen. Gerade die Doppelspurigkeit des Steuerverfahrens mit seinen weitgreifenden Offenbarungs- und Mitwirkungspflichten und Strafverfahren mit den gegenläufigen Rechten des Beschuldigten auf Aussageverweigerung und Schutz vor verbotenem Zwang zur Selbstbelastung, denen Verfassungsrang zukommt, lässt dieses Ergebnis zwingend erscheinen. Speziell im Bereich der Steuerstraftaten fiele es der Finanzverwaltung bei Unterlaufen der BVV nur zu leicht, sich bei Dritten, seien es Geschäftspartner, Kunden oder Banken, die erforderlichen Nachweise für die Steuerhinterziehung zu beschaffen.
Rz. 1060
Ein umfassendes Verwertungsverbot zum Schutz kernbereichszugehöriger Kommunikation gewährleistet § 100d Abs. 2 Satz 1 StPO n.F. bei Maßnahmen gem. §§ 100a–100c StPO (TKÜ, Online-Durchsuchung oder Wohnraumüberwachung). Bei einem Verstoß hiergegen sind sämtliche Erkenntnisse, auch als Spurenansätze, von der Verwertung ausgeschlossen.