Rz. 406
Der Verteidiger hat nach § 147 Abs. 1 und 3 StPO sowie Art. 6 EMRK ein Recht auf vollständige Einsicht in alle be- und entlastenden Akten, die dem Gericht vorliegen oder bei Anklageerhebung vorzulegen wären (§ 199 Abs. 2 StPO). Auf Einsicht in – aus Sicht der Verteidigung relevante – Akten, die bislang noch nicht verfahrensgegenständlich waren, besteht kein Anspruch, insoweit besteht lediglich das Recht, einen Beiziehungsantrag zu stellen. Hinsichtlich des Beiziehungsantrags ist dann das Recht des Beschuldigten zu beachten, dass er "das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden". Fraglich ist allerdings, was zu dieser Gesamtheit der Akte gehört, denn der Begriff der Akte ist in der StPO nicht definiert.
Rz. 407
Dazu zählt zunächst jedenfalls die sog. Ermittlungsakte einschließlich amtlich verwahrter Beweisstücke (z.B. Buchführungsunterlagen, Rechnungen, Belege, Geschäftsunterlagen etc.) und Sachverständigengutachten. Hierzu gehören auch die Akten einer Vorermittlung (etwa durch die Steufa, vgl. Nr. 122 ff. AStBV (St) 2023/2024; s. AStBV Rz. 122), sämtliche Beiakten, Beweismittelordner sowie der Strafregisterauszug. Die originalen Beweisstücke können allerdings nur an Amtsstelle eingesehen werden, während davon erstellte Kopien – unabhängig von der Aktenbezeichnung ("Beweismittelordner", "BMO" etc.) – normale Aktenbestandteile sind und als solche dem Verteidiger i.d.R. in die Kanzlei zu übermitteln sind; für elektronisch geführte Akten vgl. auch Rz. 437 f..
Rz. 408
Die Ermittlungsakten müssen unter Beachtung der Grundsätze der Aktenvollständigkeit und Aktenwahrheit von den Ermittlungsbehörden so geführt und aufbereitet werden, dass sie alles für das (Steuer-)Strafverfahren Wesentliche enthalten. Dies gilt auch für elektronisch geführte Akten, bei denen sich allerdings – zu lösende – technische Herausforderungen stellen mögen. Alle Schriftstücke, auch Ton- und Bildaufnahmen sowie Videoaufzeichnungen, aus denen sich schuldspruch- oder rechtsfolgenrelevante Umstände ergeben, dürfen den Akten nicht ferngehalten werden. Soweit die Überlassung einzelner Sonder-/Beiakten oder einzelner Akteninhalte den Ermittlungszweck konkret (Rz. 428) gefährden, können diese Aktenbestandteile anstelle einer kompletten Einsichtsversagung vor Überlassung a maiore ad minus aus der Akte entfernt werden (teilweise Akteneinsicht). Dies ist – zur Vermeidung eines unrichtigen Eindrucks der Aktenvollständigkeit – kenntlich zu machen. Zur Frage der Mitteilungsbefugnis des Verteidigers, wenn die Akten ungekürzt übermittelt werden, s. Rz. 440.
Rz. 409
Das Akteneinsichtsrecht im Steuerstrafverfahren erstreckt sich auch auf den Rot- und Grünbogen (Vermerke des Prüfers über straf- oder bußgeldrechtliche Feststellungen), wenn das Strafverfahren aus einer Außenprüfung hervorgegangen ist. Sie sind als Bestandteile der Ermittlungsakte einsehbar. Insbesondere die Kenntnis des Rotberichts ist für die Verteidigung von besonderer Bedeutung, da der Außenprüfer im Steuerstrafverfahren nicht selten als Zeuge auftritt oder die Funktion eines "Kronzeugen" einnimmt.
Rz. 410
Das Akteneinsichtsrecht erstreckt sich ferner uneingeschränkt auf die beigezogenen Steuerakten des Beschuldigten sowie auf beigezogene Steuer-, Straf- oder sonstige Akten, soweit aus ihnen Verdachtsgründe gegen den Beschuldigten hergeleitet werden und im Übrigen nicht dem Steuergeheimnis nach § 30 AO unterliegende Verhältnisse unbeteiligter Dritter betreffen, die mit dem gegen den Beschuldigten geführten Verfahren nichts zu tun haben (s. dazu auch Rz. 410 f., 432). Selten erhält man eine vollständige Einsicht in diese von der Fahndung beigezogenen Akten des Veranlagungs-FA oder der Betriebsprüfung. Trotz Nr. 35 Abs. 2 Satz 2 AStBV (St) 2023/2024 (s. AStBV Rz. 35) erhält man zumeist nur die Aktenbestandteile zur Kenntnis, die aus Sicht der Steufa für die Beurteilung des Falls erforderlich sind. Beim beharrlichen Beanspruchen weitergehender Akteneinsicht wird die StraBu auf § 385 AO, § 147 Abs. 2 StPO verweisen. In diesen Fällen ist dann zu den Pflichtzeitpunkten Beschwerde einzulegen.
Rz. 411
Speziell im Steuerstrafverfahren ist häufig das Phänomen anzutreffen, dass Aktenbestandteile von Steuerstrafakten vor Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger durch die Ermittlungsbehörden geschwärzt werden. Dies erschwert das Verständnis des Akteninhalts und damit die Strafverteidigung. Das zur Rechtfertigung dieser Praxis herangezogene Steuergeheimnis des § 30 AO trägt dieses Vorgehen nicht, denn die Informationen über die Besteuerung von Dritten werden im Rahmen der Entscheidung über die Akteneinsicht nach § 147 StPO nicht unbefugt offenbart, so dass eine Strafbarkeit nach § 355 StGB im Falle der Gewährung von Akteneinsicht an einen Strafverteidiger von vornherei...