Rz. 72
§ 396 Abs. 1 AO bestimmt, dass das Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Besteuerungsverfahrens ausgesetzt werden kann. Das Besteuerungsverfahren ist rechtskräftig abgeschlossen, wenn der Steuerbescheid formell bestandskräftig geworden ist, weil alle Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelfristen (§ 355 AO; §§ 47, 120 FGO) abgelaufen sind oder weil ein weiteres Rechtsmittel nicht mehr gegeben ist. Eine Aussetzung über den Zeitpunkt des rechtskräftigen Verfahrensabschlusses hinaus (etwa bis zum Abschluss anderer finanzgerichtlicher Verfahren) ist folglich nicht zulässig. Allerdings kann das Verfahren aus sachlichen Gründen von vornherein für eine kürzere Dauer ausgesetzt werden. Ebenso kann das Verfahren vor Ablauf der vorgesehenen Aussetzungsdauer fortgesetzt werden. In der Praxis wird das Strafverfahren jedoch regelmäßig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Besteuerungsverfahrens ausgesetzt werden. Dies ist in aller Regel auch sachgerecht: Erst nach Eintritt der Rechtskraft der im Besteuerungsverfahren ergehenden Entscheidung ist die betreffende Vorfrage hinreichend geklärt und es besteht Gewissheit über das Ergebnis des Besteuerungsverfahrens, die erforderlich ist, um widersprechende Entscheidungen zu vermeiden. Indessen wird allgemein angenommen, der Aussetzungsbeschluss sei jederzeit widerruflich; dem ist zuzustimmen.
Rz. 73
Dem jeweiligen Entscheidungsträger ist durch das Gesetz ein Ermessen zugestanden worden, ob er das Verfahren überhaupt aussetzen will oder nicht. Dem würde es nicht entsprechen, den Spielraum der vorhandenen Entscheidungsmöglichkeiten auf ein "Alles oder Nichts" zu beschränken. Zudem können sich die für die Beurteilung, ob das Innehalten mit dem Strafverfahren angezeigt ist, maßgebenden Gesichtspunkte während der Aussetzungszeit im Verlauf des Besteuerungsverfahrens ändern (s. Rz. 74). Daher ist die Ermittlungsbehörde (das Gericht) weder daran gehindert, die Aussetzungsentscheidung zu widerrufen und schon vor Ablauf der vorgesehenen Aussetzungsdauer das Verfahren fortzusetzen, noch daran, von vornherein eine Aussetzung von kürzerer Dauer zu bestimmen. Allerdings müssen für eine solche Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen Regelfrist Gründe gegeben sein. Insoweit sind die auch sonst bei der Ausübung des Ermessens zu beachtenden Grundsätze (s. Rz. 55 ff.) heranzuziehen.
Rz. 74
Insbesondere in folgenden Fällen kommt eine Fortsetzung des Strafverfahrens vor Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im Besteuerungsverfahren in Betracht:
- wenn die Abhängigkeit des Strafverfahrens von der Vorfrage und damit der Aussetzungsgrund entfällt (Beispiel: Gesetzesänderung, § 2 StGB);
- wenn im Besteuerungsverfahren eine Entscheidung ergeht und die gegen sie gerichteten Rechtsbehelfe aussichtslos erscheinen;
- wenn sich das Besteuerungsverfahren wider Erwarten und für nicht absehbare Zeit in die Länge zieht;
- wenn die Verjährung einer tateinheitlich mit der Steuerhinterziehung zusammentreffenden anderen Straftat droht und die Verfolgung der Steuerhinterziehung auch nicht nach § 154a StPO ausgeschieden werden kann;
- wenn der BFH oder das BVerfG in einer abstrakten Rechtsfrage eine Entscheidung trifft, welche die entscheidungserhebliche steuerrechtliche Vorfrage klärt;
- wenn gem. § 363 Abs. 1 AO (bzw. § 74 FGO) das Besteuerungsverfahren im Hinblick auf das Strafverfahren ausgesetzt werden sollte.