Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Allgemeines
Rz. 53
Bei der Beurteilung der zweiten in § 400 AO genannten Voraussetzung für den Erlass eines Strafbefehls, nämlich ob "die Strafsache zur Behandlung im Strafbefehlsverfahren geeignet erscheint", hat sich die FinB vornehmlich an § 407 Abs. 1 Satz 2 StPO zu orientieren.
Die Beantwortung der Frage nach der allgemeinen Eignung der Strafsache zur Behandlung im Strafbefehlsverfahren hängt davon ab, ob nach dem Ergebnis der Ermittlungen die tatsächliche und rechtliche Lage des Falles eine mündliche Hauptverhandlung nicht als erforderlich erscheinen lässt.
Rz. 54
§ 400 AO verwendet die Formulierung, dass die FinB bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen den Erlass eines Strafbefehls "beantragt". In gleicher Weise, wie für die StA aus § 407 Abs. 1 Satz 2 StPO ("Die StA stellt diesen Antrag, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich erachtet.") eine Verpflichtung zur Beantragung eines Strafbefehls folgt (s. Rz. 2), ist die FinB verpflichtet, einen Strafbefehlsantrag zu stellen, wenn ihr die Strafsache hierfür geeignet erscheint. Damit korrespondiert jedoch kein Anspruch des Beschuldigten auf Erledigung des Strafverfahrens durch Strafbefehl, denn bei der Bewertung der Eignung steht der FinB/StA ein Beurteilungsspielraum zu.
b) Geeignete Fälle
Rz. 54.1
Eine Hauptverhandlung ist insb. dann nicht erforderlich, wenn
- der Sachverhalt vergleichsweise einfach gelagert ist,
- der Sachverhalt voll aufgeklärt ist, z.B. durch ein Geständnis, das nicht im Widerspruch zu den sonstigen Ermittlungsergebnissen steht oder die Ermittlungsergebnisse derartig eindeutig sind, dass das Bestreiten des Beschuldigten völlig unglaubwürdig erscheint,
- die rechtliche Beurteilung der Tat unschwer nachvollziehbar ist.
c) Ungeeignete Fälle
Rz. 55
Eine Hauptverhandlung ist hingegen erforderlich,
- wenn nach Abschluss der Ermittlungen verbliebene Zweifel und Widersprüche letztlich nur durch eine Hauptverhandlung aufgeklärt werden können, sei es, dass ein persönlicher Eindruck des Richters von Tat und Täter unerlässlich erscheint, sei es, dass bei widersprechenden Aussagen nur ein Vorhalt durch das Gericht in einer Hauptverhandlung eine weitere Aufklärung verspricht;
- bei Hinterziehungsbeträgen in Millionenhöhe (s. Rz. 41.1).
- Auch wenn eine Sanktion von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe erwartet wird, scheidet ein Strafbefehlsantrag aus (s. Rz. 82 ff.).
d) Grenzfälle
Rz. 56
Die Frage nach der Eignung für das Strafbefehlsverfahren stellt sich
- auch bei Fällen, bei denen die Vollstreckung einer kurze Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten ist (§ 56 Abs. 3 StGB), denn dies erfordert regelmäßig eine komplexe tatrichterliche Aufarbeitung des Geschehens in einer Hauptverhandlung, auch in subjektiver Hinsicht (s. Rz. 3);
- bei rechtlich schwierigen Fällen, wie z.B. den "Selbstanzeigefällen" bei Steuerdaten-CDs (s. § 371 Rz. 687 ff., 735 ff.; § 385 Rz. 1188 ff.), bei denen nach BGH eine frühe Einbindung der StA in Betracht kommt (s. § 386 Rz. 26).
Rz. 57
Aus den AStBV (St) 2020 (Nr. 84; s. AStBV Rz. 84) i.V.m. den RiStBV (Nr. 175–179) ergeben sich für die FinB/StA folgende Orientierungshilfen dafür, welche Gesichtspunkte sie bei Entscheidung der Frage, ob ein Strafbefehl zu beantragen ist, berücksichtigen soll.
- Der Erlass eines Strafbefehls soll nur beantragt werden, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten bekannt ist, so dass er in der regelmäßigen Form zugestellt werden kann (Nr. 175 Abs. 2 Satz 1 RiStBV). Sonst ist das Verfahren vorläufig einzustellen.
- Die Finanzverwaltung hält im Übrigen das Strafbefehlsverfahren für nicht geboten bei einem besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 3 AO; vgl. Nr. 84 Abs. 3 Satz 2 AStBV (St) 2020).
- Im Übrigen soll von einem Strafbefehlsantrag nur abgesehen werden, wenn die vollständige Aufklärung aller für die Rechtsfolgenbestimmung wesentlichen Umstände oder Gründe der Spezial- oder Generalprävention die Durchführung einer Hauptverhandlung geboten erscheinen lassen (Nr. 175 Abs. 3 Satz 1 RiStBV, Nr. 84 Abs. 3 Satz 3 AStBV (St) 2020).
- Auf einen Strafbefehlsantrag ist nicht schon deswegen zu verzichten, weil ein Einspruch des Angeschuldigten zu erwarten ist (Nr. 175 Abs. 3 Satz 2 RiStBV; auch Nr. 84 Abs. 3 Satz 4 AStBV (St) 2020).
Trotz dieser Vorgaben ändert dies jedoch grds. nichts an der Akzeptanzfunktion des Strafbefehls. Ist mit einem Einspruch des Beschuldigten gegen den Strafbefehl sicher zu rechnen, ergibt ein Strafbefehlsantrag aus Sicht der Ermittlungsbehörde keinen Sinn. Daher sollte auf alle vom Beschuldigten vorgetragenen und zu erwartenden Argumente im Strafbefehlsentwurf eingegangen werden.
f) Interne Anweisungen und Wertgrenzen
Rz. 58
Darüber hinaus sind interne Anweisungen der StA bekannt, wonach Strafbefehle dann beantragt werden sollen, wenn die Anzahl von 180 Tagessätzen nicht ...