Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 64
Wegen der Anknüpfungstat wurde ein Straf- oder Bußgeldverfahren gegen deren Täter nicht eingeleitet oder ein bereits eingeleitetes Verfahren wurde eingestellt oder es wurde von Strafe abgesehen (§ 30 Abs. 4 Satz 1 OWiG).
Rz. 65
Der Verfolgung der Tat gegen eine bestimmte Person können tatsächliche Gründe entgegenstehen, z.B. der Tod des Organs der JP/PV oder die Entziehung durch Flucht.
Rz. 66
Die Identität des Täters muss nicht feststehen. Die isolierte Verhängung einer Verbandsgeldbuße kommt z.B. auch in Betracht, wenn unklar ist, welcher von mehreren Repräsentanten die Straftat begangen hat, aber einer auf jeden Fall gehandelt haben muss (sog. anonyme Verbandsgeldbuße). Das gilt auch bei einer Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG, wenn nicht feststeht, welche Leitungsperson zuständig war, und dies auf einen Organisationsmangel zurückzuführen ist, für den alle Organmitglieder verantwortlich sind. In beiden Fällen darf jedoch in Bezug auf alle in Betracht kommenden Täter kein rechtliches Verfolgungshindernis bestehen (s. dazu Rz. 71 ff.).
Rz. 67
Auch wenn mehrere Organmitglieder an der Anlasstat beteiligt waren, kann gleichwohl nur eine Geldbuße gegen das Unternehmen festgesetzt werden.
Rz. 68
Gemäß § 30 Abs. 4 Satz 1 OWiG kommt die Festsetzung einer Geldbuße im selbständigen Verfahren auch dann in Betracht, wenn "das Verfahren eingestellt wird".
Umstritten ist dabei, ob auch die Einstellung der Anlasstat gem. § 153a StPO bzw. die Ahndung im Strafbefehlsverfahren gem. § 407 Abs. 2 Nr. 1 StPO tauglicher Anknüpfungspunkt für eine isolierte Unternehmensgeldbuße sein können. Siehe dazu näher § 377 Rz. 130 ff.
Rz. 69
Auf jeden Fall muss die Anlasstat in objektiven Verfahren durch das Gericht förmlich festgestellt werden (s. Rz. 41, 95).
Rz. 70
Auch wenn dies mit Blick auf die Unschuldsvermutung bedenklich erscheint, ist in der Praxis auch bei Einstellungen wegen Geringfügigkeit nach dem Opportunitätsprinzip gem. §§ 153 ff. StPO, § 398 AO oder § 47 OWiG eine isolierte Verbandsgeldbuße durchaus üblich (krit. s. § 377 Rz. 130). Entsprechendes gilt für das Absehen von der Verfolgung in besonderen Fällen gem. § 398a AO.
Rz. 71
Dagegen ist – anders als bei dem Antrag auf Einziehung (s. Rz. 25, 32) – ein Antrag auf Festsetzung einer Geldbuße im selbständigen Verfahren ausgeschlossen, wenn rechtliche Gründe der Verfolgung der Tat entgegenstehen (§ 30 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 1 OWiG).
Rz. 72
Das gilt vor allem, wenn die Anknüpfungstat (z.B. die Steuerhinterziehung durch einen GmbH-Geschäftsführer) verjährt ist. Die Verjährung muss bereits vor Einleitung des selbständigen Verfahrens eingetreten sein. Verjährungsunterbrechende Maßnahmen gegenüber dem Organtäter wirken jedoch auch gegenüber dem Verband unterbrechend.
Rz. 73
Sofern die Anknüpfungstat noch nicht verjährt ist, tritt gem. § 30 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2, § 33 Abs. 1 Satz 2 OWiG eine getrennte Verjährung ein mit entsprechenden Unterbrechungsmöglichkeiten. Die Länge der Verjährungsfrist bestimmt sich aber auch im selbständigen Verfahren nach der Anknüpfungstat (bei Steuerstraftaten/-ordnungswidrigkeiten also regelmäßig fünf Jahre bzw. zehn Jahre in schweren Fällen des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1–6 AO, s. § 376 Rz. 16 ff., 30 ff.; § 384 Rz. 2).
Rz. 74
Auch eine Verhandlungs- und Schuldunfähigkeit stellt ein rechtliches Verfolgungshindernis i.S.v. § 30 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 1 OWiG dar.
Rz. 75
Gleiches gilt für persönliche Strafaufhebungsgründe. Kann die Anlasstat wegen Rücktritts, einer wirksamen Selbstanzeige (§§ 371, 378 Abs. 3 AO) der Leitungsperson oder wegen einer strafbefreienden Erklärung im Sinne des StraBEG nicht verfolgt werden, ist eine selbständige Verbandsgeldbuße ausgeschlossen; ebenso, wenn für das Unternehmen eine Berichtigungserklärung gem. § 153 AO abgegeben werden kann, die gem. § 371 Abs. 4 AO für das Organ ebenfalls eine Strafbefreiung zur Folge hat.
In den vorgenannten Fällen bleibt aber die Möglichkeit der Einziehung des Wertes von Taterträgen gem. § 29a Abs. 2 OWiG (s. Rz. 102).