Rz. 152
Zu einer auf Erforschung von Steuerstraftaten und -ordnungswidrigkeiten gerichteten Tätigkeit darf es nur kommen, wenn "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" (vgl. § 152 Abs. 2 StPO) für das Vorliegen einer Steuerstraftat i.S.v. § 369 Abs. 1 AO gegeben sind, mithin ein sog. Anfangsverdacht besteht (s. ausf. § 397 Rz. 5).
Rz. 153
Bloße Vermutungen oder auf allgemeine Erfahrungen gestützte Hypothesen reichen auf keinen Fall aus (z.B. die Annahme, bei Prostituierten bestehe allgemein der Verdacht der Steuerhinterziehung, ein einmal nicht versteuertes "Sonderhonorar" wird auch in anderen Zeiträumen empfangen oder "Provisionen" werden als Bestechungsgelder verbucht). Ansonsten würde ohne konkrete Anhaltspunkte eine Suche nach strafbaren Handlungen stattfinden. Ebenso wenig genügt die bloße Möglichkeit, ein gesetzlich zulässiger Betrieb könnte von Straftätern missbraucht werden, vielmehr müssen "Verdachtsmomente für den konkreten Missbrauch" vorliegen.
Rz. 154
Der Anfangsverdacht unterscheidet sich von der Vermutung dadurch, dass aus den tatsächlichen Anhaltspunkten nicht nur auf die Möglichkeit – so bei der Vermutung –, sondern auf eine gewisse, wenn auch zweifelhafte Wahrscheinlichkeit für eine strafbare Handlung geschlossen werden muss (s. § 397 Rz. 5; Nr. 26 Abs. 2 AStBV (St) 2022; s. AStBV Rz. 26).
Rz. 155
Sofern derartige konkrete Tatsachen vorliegen, entsteht für die Strafverfolgungsbehörden die Verpflichtung, diesem Verdacht nachzugehen und den Sachverhalt zu erforschen (§ 152 Abs. 2 i.V.m. § 160 Abs. 1 StPO). Es gilt das Legalitätsprinzip (s. dazu § 385 Rz. 62, 123 ff.; zu den Ausnahmen in Opportunitätsfällen s. § 385 Rz. 63 und 559 ff.). Für die Fahndungsbeamten folgt dies bereits aus §§ 404, 385 AO, § 163 StPO. In diesem Fall ist unverzüglich das Steuerstrafverfahren einzuleiten unter Beachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Bekanntgabe- und Belehrungspflichten (§ 393 Abs. 1 Satz 4, § 397 Abs. 3 AO und § 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO i.V.m. § 385 Abs. 1 AO).
Rz. 156
Die Ermittlungsbeamten können sich wegen Strafvereitelung im Amt (§§ 258, 258a, 22, 23 StGB) strafbar machen, wenn sie nicht die nach dem Legalitätsprinzip gebotenen Ermittlungen aufnehmen bzw. wichtige Erkenntnisse, die einen Anfangsverdacht begründen, nicht an die zuständigen Stellen weiterleiten. Für eine Bestrafung ist aber der Nachweis erforderlich, dass der Beamte die Bedeutung der Ermittlungsansätze erkannt und die Ermittlungen zielgerichtet beeinträchtigt hat.
Rz. 157
Nach der Rspr. haben die Ermittlungsorgane bei der Frage, ob ein die Verfahrenseinleitung rechtfertigender Anfangsverdacht vorliegt, zwar keinen Ermessens-, wohl aber einen Beurteilungsspielraum.
Rz. 158
Eine missbräuchliche Ausnutzung (z.B. durch pflichtwidrig verspätete Verfahrenseinleitung) soll nach Ansicht des BGH lediglich auf der Rechtsfolgenseite kompensiert werden – bei einem Verstoß gegen Belehrungspflichten im Besteuerungsverfahren (§ 393 Abs. 1 AO, § 10 BpO 2000 i.V.m. §§ 136, 163a StPO) besteht jedoch ein Verwertungsverbot – (s. dazu und zur Kritik hieran § 397 Rz. 41 ff.; § 393 Rz. 161).
Zur Begründung führt der BGH aus:
"Nutzen die Ermittlungsbehörden diesen Beurteilungsspielraum mißbräuchlich aus, kann dies den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzen. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn ein Steuerstrafverfahren wegen Hinterziehung von Veranlagungssteuern erst nach Abschluß der Veranlagungsarbeiten eingeleitet wird, obwohl bereits zeitlich früher zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Steuerverkürzung vorlagen und mit dem Zuwarten allein erreicht werden soll, daß der Beschuldigte wegen einer vollendeten Tat und nicht nur wegen einer versuchten Steuerhinterziehung verfolgt werden kann, weil mit Einleitung des Ermittlungsverfahrens die Strafbarkeit wegen Nichtabgabe der Steuererklärung entfällt (vgl. BGH v. 23.1.2002 – 5 StR 540/01, BGHR AO § 393 Abs. 1 Erklärungspflicht 3). Ein solches pflichtwidriges Verhalten der Ermittlungsbehörden, welches mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens unvereinbar wäre, führt indes nicht etwa dazu, daß eine Verurteilung wegen vollendeter Steuerhinterziehung ausscheidet. Es ist jedoch vom Tatrichter bei der Festsetzung der Rechtsfolgen zu berücksichtigen (vgl. zu dem ähnlich gelagerten Problem eines Lockspitzeleinsatzes BGH v. 18.11.1999 – 1 StR 221/99, BGHSt 45, 321)."
Rz. 159
Bei Verstößen gegen andere Belehrungspflichten, die in ihrem Gewicht dahinter zurückbleiben (z.B. keine qualifizierte Belehrung darüber, dass frühere Aussagen mangels ordnungsgemäßer Belehrung unverwertbar sind), wird über die Verwertbarkeit der Aussage nach Abwägung der Umstände des Einzelfalls entschieden. Verwertungsverbote im Strafverfahren ziehen jedoch grds. keine Unverwertbarkeit auch im Besteuerungsverfahren nach sich. Die Rspr. ...