Rn. 155
Stand: EL 173 – ET: 06/2024
Die gewerbliche Umqualifizierung gilt vom Wortlaut her auch bei verhältnismäßig nur unwesentlicher gewerblicher Betätigung: BFH BStBl II 1995, 171; 1977, 660/61.
Der XI. Senat des BFH schloss sich im Urteil BFH vom 11.08.1999, BStBl II 2000, 229 dieser Beurteilung zwar "grundsätzlich" an, grenzte die Rspr in der Sache aber ein, indem es nunmehr entscheidungserheblich nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Grundsatz der Proportionalität) auf das Verhältnis der gewerblichen Tätigkeit zur nicht gewerblichen Tätigkeit ankommt (Bagatellgrenze). Zur Höhe der Bagatellgrenzen gibt es eine lange Abfolge an Entscheidungen bis zur grundsätzlichen Entscheidung des VIII. Senats vom 27.08.2014, s nachfolgend.
Im Urteilsfall 11.08.1999, aaO, erzielte eine Gemeinschaftspraxis für Krankengymnastik neben Einnahmen aus freiberuflicher Tätigkeit iHv 510 470 DM auch Einnahmen aus dem Verkauf von Nackenkissen und Cremes iHv 6 481 DM. Der BFH gelangte zu der Auffassung, dass eine Infizierung der freiberuflichen Einnahmen deshalb nicht erfolgte, weil die gewerbliche Tätigkeit äußerst gering war und (zufällig) nur 1,25 % der Gesamtumsätze ausmachte und daher von ganz untergeordneter Bedeutung war (Urteil bestätigt vom BVerfG vom 15.01.2008, 1 BvL 2/04, DB 2008, 1243 und BFH VIII, BStBl II 2011, 506; auch s OFD Ffm vom 28.02.2007, DB 2007, 1282, und schlussendlich hatte auch die FinVerw in H 138 Abs 5 EStH 2001 zugestimmt, dass "jedenfalls" bei einem Anteil der originär gewerblichen Tätigkeit von 1,25 % der Gesamtumsätze die Umqualifizierung nicht eingreife).
BFH vom 08.03.2004, BFH/NV 2004, 954, hielt 2,81 % für auch noch sehr gering. BFH VIII, BStBl II 2009, 652 zu 4.e. der Begründung hielt dann 3,35 % (5 % von 67 %) nicht mehr für "äußerst geringfügig" (aA noch Rose, DB 2000, 994: 5 %; FG SchlH vom 25.08.2011, EFG 2012, 41: > 5 % klar schädlich).
Die für die Praxis bedeutsame Frage der Höhe der unschädlichen Bagatellgrenze hat der VIII. Senat des BFH in drei Grundsatzentscheidungen vom 27.08.2014 grundsätzlich und umfassend beantwortet:
Im Verfahren BFH vom 27.08.2014, VIII R 6/12, BStBl II 2015, 1002, ging es um eine RA-GbR, die einem angestellten RA (und weiteren Mitarbeitern) die zumindest teilweise eigenverantwortliche Durchführung von Insolvenzverfahren übertragen hatte (insoweit gewerbliche Tätigkeit). Infolge der Rspr des BVerfG sei aus Gründen der Verhältnismäßigkeit allerdings eine Bagatellgrenze zu beachten, bzgl der der BFH vor dem Hintergrund früherer BFH-Rspr im Wege einer typisierenden Betrachtungsweise, ausschließlich pragmatischen Gründen folgend (so zu Recht von Lersner, DStR 2015, 2817), zu dem Ergebnis kam, dass Umsätze bis zu 3 % der Gesamtnettoumsätze – obwohl auch die USt BE ist, BFH BStBl II 1995, 718 – (relative Grenze) noch (!) unschädlich sind, wenn sie außerdem die (aus § 11 Abs 1 S 3 Nr 1 GewStG abgeleitete) absolute Grenze von EUR 24 500 nicht übersteigen (so auch H 15.8 Abs 5 EStH 2022 "Bagatellgrenze"). Die Festsetzung einer absoluten Geringfügigkeitsgrenze gründet lt BFH auf der Notwendigkeit, eine Privilegierung von Gesellschaften mit hohen freiberuflichen Umsätzen zu vermeiden. Die Bagatellgrenze von 3 % des Gesamtumsatzes wird ab Umsätzen von rd EUR 816 000 obsolet, weil eine Überschreitung der absoluten Grenze von EUR 24 500 bereits schädlich ist.
Ein Bezug der Bagatellgrenzen auf den Zeitraum mehrerer VZ wie beim Strukturwandel von der LuF zum Gewerbebetrieb (s R 15.5 Abs 2 S 4 EStR 2012) ist nicht zulässig (BFH vom 30.06.2022, BFH/NV 2022, 1356 Rz 44: Grundsatz der Abschnittsbesteuerung). Damit kann – in Grenzfällen – durch einmaliges Überschreiten einer der Bagatellgrenzen eine Betriebseröffnung und durch ein in den nächsten VZ erfolgendes Unterschreiten eine nachfolgende Betriebsaufgabe unterstellt werden. Offen ist, ob eine Betriebsaufgabe nur dann ausgelöst wird, wenn der StPfl eine solche erklärt (dafür spricht BFH vom 29.10.1981, BStBl II 1982, 381). Im Verfahren BFH vom 27.08.2014, VIII R 16/11, BStBl II 2015, 996 ging es um eine als Künstler-GbR auftretende Karnevals-Gesangsgruppe, die durch den Verkauf von Merchandising-Artikeln (T-Shirts, Aufkleber, Kalender und CD) auch gewerbliche Einnahmen erzielte. Der BFH verneinte die Umqualifizierung in gewerbliche Einkünfte, weil die gewerblichen Umsätze unter den typisiert festgelegten Höchstbeträgen von 3 % der Gesamtnettoumsätze (2,26 %) und von 24 500 EUR (Urteil VIII R 6/12 aaO) lagen.
- Im Verfahren BFH vom 27.08.2014, VIII R 41/11, BStBl II 2015, 999 ging es um die Freiberuflichkeit einer Werbeagentur (Web-Design), die auch auf Provisionsbasis Druckaufträge vermittelte. Der BFH hat die Umqualifizierung in gewerbliche Einkünfte bejaht, weil die gewerblichen Vergütungen für Druckaufträge mit 4,27 % bzw 4,91 % der Gesamtnettoumsätze die vom Senat aufgestellte relative Grenze von 3 % überschritten hatten und damit über dem noch als äußerst geringfügig anzusehenden Anteil von 3 % der Gesamtnettoerlöse l...