Dr. Carl Ulrich Hildesheim
Rn. 87
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Zur Behandlung von ESt-Vorauszahlungen in der Insolvenz einer natürlichen Person in Bezug auf die Aufrechnung des FA (s Aufrechnungsverbot in § 96 InSO) mit aus Vorauszahlungen resultierendem Erstattungsanspruch hat der BFH jüngst zwei Urteile erlassen:
Wird eine selbstständige Tätigkeit gemäß § 35 Abs 2 InsO aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben, ist ein ESt-Erstattungsanspruch, der auf Vorauszahlungen beruht, die erst nach der Freigabe festgesetzt und allein nach den zu erwartenden Einkünften aus der freigegebenen Tätigkeit berechnet worden sind, nicht iSd des § 96 Abs 1 Nr 1 InsO der Insolvenzmasse geschuldet. Darüber hinaus ist ein ESt-Erstattungsanspruch auch dann nicht der Insolvenzmasse geschuldet, wenn er auf Vorauszahlungen beruht, die nach der Freigabe aus Mitteln geleistet worden sind, die zum freigegebenen Vermögen gehören (BFH BStBl II 2015, 561).
Der BFH bestätigt damit seine Rspr, nach der ESt-Erstattungsansprüche aufgrund einer durch den Insolvenzverwalter freigegebenen Tätigkeit des Insolvenzschuldners nicht dem Insolvenzbeschlag unterliegen und deshalb das FA mit vorinsolvenzrechtlichen Forderungen aufrechnen darf. ESt-Erstattungsansprüche unterliegen auch dann nicht dem Insolvenzbeschlag, wenn sie aus Zahlungen aus dem freigegebenen Vermögen beruhen (Steinhauff, jurisPR-SteuerR 13/2015 Rz 1).
- Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens an das FA entrichtete Beträge, die nicht aus freigegebenen Vermögen stammen, können gemäß § 36 Abs 2 Nr 1 EStG nur auf Steuerschulden angerechnet werden, die zu den Masseverbindlichkeiten gehören. In Höhe eines nach Anrechnung der Zahlungen auf nachinsolvenzlich begründete Steuerschulden verbliebenen Überschusses entsteht ein Erstattungsanspruch zugunsten der Masse gemäß § 36 Abs 4 S 2 EStG. Einer Aufrechnung gegen diesen Erstattungsanspruch mit Insolvenzforderungen des FA steht das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs 1 Nr 1 InsO entgegen (BFH BStBl II 2015, 993; zustimmend Riewe, NZI 2015, 477; kritisch Krüger, BFH-PR 2015, 258).
Rn. 88
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Zu der BFH-Rspr im Einzelnen:
Da die InsO den FinBeh hinsichtlich der Steuerrückstände von StPfl keine Sonderstellung einräumt, hat das FA naturgemäß ein besonderes Interesse daran, insolvenzfeste Aufrechnungspositionen zu nutzen; dies ist auch von Bedeutung in Fällen der Zahlung von (überhöhten) ESt-Vorauszahlungen. § 96 InsO regelt, ob im Einzelfall die Aufrechnung unzulässig ist.
Im Verfahren BFH BStBl II 2015, 561 (mit Anm de Weerth, NZI 2015, 387; dazu auch Riewe, NZI 2015, 477) hatte der BFH über einen Fall zu entschieden, in dem der Schuldner nach einer Freigabe seiner selbstständigen Tätigkeit ESt-Vorauszahlungen geleistet hatte. Der BFH führt aus, dass die Erklärung nach § 35 Abs 2 S 1 InsO darüber, ob Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können, auch bei einkommensteuerlichen Erstattungsansprüchen zur Massefreiheit führen kann. Den Begriff "Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit" legt er dabei weit aus und verneint eine Beschränkung auf Betriebssteuern bzw auf BE und BA. Ausgehend von der Entscheidung in BFH BFH/NV 2014, 1013 bekräftigte der Senat, dass diese Voraussetzungen bei ESt-Erstattungsansprüchen erfüllt sind, wenn die zu Grunde liegenden ESt-Vorauszahlungen erst nach der Freigabe festgesetzt und allein nach den zu erwartenden Einkünften aus der vom Insolvenzbeschlag befreiten Tätigkeit berechnet worden sind. Weitergehend soll ausreichen, dass Vorauszahlungen nach der Freigabe aus Mitteln geleistet werden, die zum freigegebenen Vermögen gehören. Mittel, die einmal zum freigegebenen Vermögen gehört haben, könnten nicht nachträglich wieder der Insolvenzmasse zugeordnet werden.
Die Entscheidung BFH BStBl II 2015, 561 knüpft an die jüngere BFH-Rspr an, wonach erst und nur die vollständige Verwirklichung des gesetzlichen Besteuerungstatbestands zu einer Steuerschuld führt (BFH BStBl II 2010, 138, dazu de Weerth, NZI 2009, 664). Die Begründung eines ESt-Anspruchs als Masseschuld hängt mithin davon ab, ob der einzelne (unselbstständige) Besteuerungstatbestand vor oder nach Insolvenzeröffnung verwirklicht wurde (BFH BFH/NV 2015, 470; dazu de Weerth, EWiR 2015, 157).
Über diese vorherige Rspr hinausgehend besteht nun auch insoweit Klarheit, dass eine echte Freigabe aus der Masse bewirkt, dass der Masse jedenfalls keine Steuererstattungen zustehen, welche das freigegebene Vermögen betreffen.
Rn. 89
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Die Entscheidung BFH BStBl II 2015, 993 (dazu Anm Riewe, NZI 2015, 477 und kritisch Anzinger, EWiR 2015, 419) führt diese Rspr weiter. Der VII. Senat bestätigt, dass aus Zahlungen an das FA nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (soweit diese gerade nicht aus freigegebenem Vermögen stammen) ein Erstattungsanspruch der Masse resultiert, wenn die Vorauszahlungen sich im Nachhinein als höher erweisen als der als Masseverbindlichkeit einz...