Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 500
Stand: EL 80 – ET: 08/2008
Im Gegensatz zu den Gewinnen (s Rn 410) sind Verluste auch dann auszuweisen, wenn sie am Bilanzstichtag zwar noch nicht realisiert, aber immerhin vorhanden sind. Entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis werden also nicht die aus Sicht des Bilanzstichtags künftig drohenden Verluste und Risiken berücksichtigt, sondern nur die bis dahin entstandenen (so auch wörtlich § 252 Abs 1 Nr 4 Hs 1 HGB). Entgegen der missverständlichen Sprachregelung werden also durch das Imparitätsprinzip nicht künftige Verluste antizipiert, also vorweggenommen. Vielmehr werden nur die Zahlungsabflüsse in der Zukunft aufgrund der am Bilanzstichtag bestehenden Verluste "antizipiert". Dies ist wiederum zwingender Ausfluss der Gewinnermittlung durch Vermögensvergleich (nicht Cashflow-Rechnung) gem § 252 Abs 1 Nr 5 HGB (so Blümich/Schreiber § 5 EStG Rz 253 unter zutreffender Bezugnahme auf GrS BFH BStBl II 1997, 735; so auch Kessler, DStR 1994, 1289 gegen Weber-Grellet, DB 1994, 288).
Deshalb ist auch die Abschaffung der Drohverlustrückstellung in der StB in § 5 Abs 4a EStG (s Rn 889) als Verstoß gegen das Imparitätsprinzip zu werten. Dieser rechtfertigt sich auch nicht durch eine besondere Zielsetzung der StB (so aber Weber-Grellet, DB 1997, 2235).
Beispiel (nach Hoffmann, DStR 1999, 1547, s Rn 895):
Eine Einzelhandelskette errichtet einen neuen Supermarkt auf der grünen Wiese, allerdings nicht als Eigentümer, sondern als Mieter. Vermieter ist ein geschlossener Immobilienfonds. Die fest vereinbarte Mietzeit mit ebenfalls fest definiertem Mietaufwand beläuft sich auf 15 Jahre. Nach drei Jahren muss der Supermarkt mangels Kundeninteresses geschlossen werden. Am Bilanzstichtag ist eine anderweitige Nutzung noch nicht absehbar.
Am Bilanzstichtag ist dieser Verlust effektiv vorhanden. Jeder potentielle Käufer des Supermarkt-Unternehmens wird ihn in seine Kaufpreiskalkulation einbeziehen. Allerdings fehlt es noch an zwölf Jahren zahlungswirksamer Realisierung des Verlustes.
Gegen diese Sicht wendet sich Weber-Grellet (DB 1997, 2235) wie folgt: "Die steuerliche Verlustantizipation stellt die Dinge auf den Kopf. Steuern sind zu zahlen, wenn Gewinne vorhanden sind, und keine Steuern sind zu zahlen, wenn Verluste entstehen. Die steuerliche Verlustantizipation bedeutet eine schlichte Verkehrung dieses einfachen Grundtatbestandes." Dagegen ist einzuwenden: Die Gewinnermittlung durch Vermögensvergleich ist keine Liquiditätsrechnung, Steuern sind auch zu zahlen (im Sinne dieser Diktion), wenn Gewinne durch Forderungen realisiert sind, denen noch kein Geldzufluss gegenübersteht. Und umgekehrt: Verluste sind auch dann schon vorhanden (wie im Falle des Supermarktes) und werden im Übrigen zur Wiederholung nicht antizipiert, wenn der damit notwendig verbundene Liquiditätsabfluss noch nicht erfolgt ist (s Rn 345, 892).
Schön StbJb 1997/98, 331 spricht hier instruktiv von "Kassenwirksamkeit" von Verlusten, auf die es eben bei der Bilanzierung gem § 255 Abs 1 Nr 5 HGB nicht ankommen kann. Vgl hierzu auch die heftige Diskussion zu diesem Thema zwischen Küting/Kessler, DStR 1997, 1665 und Weber-Grellet, DB 1997, 2233.
Zusammenfassend: Nach dem Imparitätsprinzip werden Verluste gerade nicht antizipiert, und schon gar nicht unbegrenzt. Es wird auch nicht künftiger Aufwand vorverlagert, sondern lediglich Ausgaben.