Jürgen Dräger, Tobias Müller
Rn. 958
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
Für Verbindlichkeiten sieht § 6 Abs 1 Nr 3 S 1 EStG eine Abzinsung mit dem Zinssatz von 5,5 % vor. Gegen die Höhe des Zinssatzes bestehen nach Auffassung des FG Hamburg zu Recht ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit, weshalb es in dem entsprechenden Fall vorläufigen Rechtsschutz gewährte (vgl FG Hamburg v 31.01.2019, 2 V 112/18, EFG 2019, 525; entsprechende Zweifel bestehen auch gegen die typisierenden Zinssätze iHv 6 % nach § 233a AO und § 6a Abs 3 S 3 EStG). Das FG Münster vertritt hingegen die Auffassung, dass der Abzinsungssatz von 5,5 % nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt (vgl FG Münster v 22.07.2021, 10 K 1707/20 E G, Rev zugelassen). Zudem stellt sich die Frage, ob Verbindlichkeiten und Rückstellungen gem § 6 Abs 1 Nr 3 und 3a EStG ab dem Jahr 2019 aufgrund der Entscheidung des BVerfG v 08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 zu § 233a AO (vgl Eppler/Dorn, DB 2021, 1986; Dorn/Dräger, DB 2022, 569) mit einem an das aktuelle Zinsniveau angepassten Zinssatz abzuzinsen sind. Ein entsprechendes Verfahren war beim BFH anhängig (Az IV R 4/22, das FG Münster lehnt dies als Vorinstanz ab, vgl Urt FG Münster v 18.01.2022, 2 K 700/18 G, F). Die FinVerw hat dies zuvor abgelehnt (vgl auch Begründung des Gesetzesentwurfs zur Änderung des Zinssatzes für Steuernachforderungen und -erstattungen). Durch Beschluss des BFH v 06.12.2022, IV R 4/22 ist das Verfahren inzwischen erledigt (Erledigung der Hauptsache; das Urt des FG Münster v 18.01.2022, 2 K 700/18 G,F ist gegenstandslos).
Dieses Gebot der Abzinsung ist verpflichtend und besteht seit 1999. Es gründet auf der Annahme, dass Verbindlichkeiten sowohl einen Zins- als auch einen Tilgungsanteil beinhalten. Der Zinsanteil ist aktiv abzugrenzen.
Ausgenommen von dieser Verpflichtung sind nach S 2 der Regelung
- Verbindlichkeiten, deren Laufzeit am Bilanzstichtag weniger als zwölf Monate beträgt,
- verzinsliche Verbindlichkeiten sowie
- Verbindlichkeiten, die auf einer Anzahlung oder Vorausleistung beruhen.
In der Praxis stellt die Abzinsung daher die Ausnahme dar. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht den Inhalt des § 6 Abs 1 Nr 3 S 1 und 2 EStG:
Verbindlichkeitsart |
Abzinsungsverpflichtung |
Anzahlungen oder Vorausleistungen |
Nein |
Verzinsliche Verbindlichkeiten |
Nein |
Laufzeit am Bilanzstichtag weniger als 12 Monate |
Nein |
Übrige Verbindlichkeiten |
Ja |
Darüber hinaus sieht die FinVerw auch von einer Abzinsung folgender Verbindlichkeiten ab (vgl LfSt Niedersachsen v 02.05.2019, S 2741–436-St 242):
- Kredite, welche die Banken von den Zentralbanken erhalten,
- Weiterleitungsdarlehen, die die Banken für ausgewählte Investitionsvorhaben (zB Wohnungsbau) von Förderbanken erhalten, und
- Kundeneinlagen.
Bei diesen null- oder negativverzinsten Verbindlichkeiten der Banken bestehen nach Auffassung des BMF andere wirtschaftliche Nachteile, die einer Verzinsung gleichzustellen sind. Da sind die Verbindlichkeiten wie verzinste Verbindlichkeiten zu behandeln.
Ein verzinsliches Darlehen iSd § 6 Abs 1 Nr 3 S 2 EStG liegt nach Auffassung des BFH auch dann vor, wenn ein zunächst nur bedingt verzinsliches Darlehen für die Restlaufzeit in ein unbedingt verzinsliches Darlehen umgewandelt wird (vgl BFH v 18.09.2018, XI R 30/16, BStBl II 2019, 67). Dies gilt auch dann, wenn die Umwandlung vor dem Bilanzstichtag erfolgt, der Zinslauf aber erst nach diesem beginnt. Im konkreten Fall sahen die Vereinbarungen zunächst vor, dass eine Verzinsung nur erfolgen sollte, wenn die Darlehensnehmerin auch Dividenden ausschüttet. Eine Mindestverzinsung oder eine Kumulation der nicht gezahlten Zinsen sah der Darlehensvertrag nicht vor. Anschließend wurde eine Vereinbarung über eine feste Verzinsung aufgenommen (sog Verzinsungsabrede). Nach Auffassung des BFH lag über die gesamte Laufzeit eine verzinsliche Verbindlichkeit vor, so dass eine Abzinsung nicht notwendig war. Denn nach Auffassung des BFH liegt eine verzinsliche Verbindlichkeit idS nur vor, wenn das Darlehen mit einer Zinsvereinbarung verbunden sei (BFH v 27.01.2010, I R 35/09, BStBl II 2010, 478 Rz 15). Dabei stehe die Nichtzahlung der vereinbarten Zinsen einer Verzinslichkeit nicht entgegen (Beschluss des BFH v. 29.06.2009, I B 57/09, BFH/NV 2009, 1804).
Dem Abzinsungsgebot unterfallen auch unverzinsliche (betriebliche) Verbindlichkeiten aus Darlehen, die ein Angehöriger einem Gewerbetreibenden, Selbstständigen oder LuF gewährt, wenn der Darlehensvertrag unter Heranziehung des Fremdvergleichs steuerrechtlich anzuerkennen ist (BFH v 13.07.2017, VI R 62/15, BStBl II 2018, 15; dazu Paus, DStZ 2018, 124). Gegen diese Entscheidung hinsichtlich der Abzinsung von Angehörigendarlehen wurde eine Verfassungsbeschwerde eingelegt (Az 2 BvR 2706/17).
Inzwischen hat der BFH das Verfahren unter dem Az X R 19/17 entschieden. Dieses war auch zur Frage anhängig, ob innerhalb von entfernten Familien- und Verwandtenverhältnissen gewährte langfristige Darlehen aus zunächst zinslos abgeschlossenen Darlehensverträgen, die nach Beanstan...