0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Mit Inkrafttreten des Art. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) v. 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) wird der bisherige § 63 mit Wirkung zum 1.1.2018 zu § 85. Die Vorschrift entspricht inhaltlich dem bisherigen § 63.
1 Allgemeines
Rz. 1a
Die Vorschrift normiert ein besonderes Klagerecht der Verbände, um durch eine von ihnen wahrgenommene Prozessstandschaft die gerichtliche Geltendmachung von Rechten behinderter Menschen an ihrer Stelle und mit ihrem Einverständnis zu erleichtern. Dabei werden Interessenkollisionen in den Fällen, in denen Verbänden eine Doppelrolle zufallen könnte, verhindert. Satz 2 stellt klar, dass zum Beispiel bei einer abgelaufenen Rechtsmittelfrist den Verbänden keine weiter reichende Klagemöglichkeit, als sie dem Betroffenen selbst zur Verfügung steht, eröffnet wird (Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen, BT-Drs. 14/5074, S. 111).
Rz. 2
Durch § 85 wird mithin keine Verbandsklagemöglichkeit im eigentlichen Sinne eingeführt, wie sie etwa in § 13 Abs. 2 Nr. 2 bis 3 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) oder § 36 Abs. 1 des Hessischen Naturschutzgesetzes (HENatG) vorgesehen ist, da die Vorschrift nicht eine prozessuale Verfolgung kollektiver Rechte der Verbände von behinderten Menschen, sondern von subjektiven Rechten individuell betroffener behinderter Menschen regelt.
2 Rechtspraxis
2.1 Prozessstandschaft der Verbände
Rz. 3
Die durch Satz 1 nunmehr gesetzlich geregelte Prozessstandschaft hat zum Inhalt, dass Verbände im eigenen Namen die Rechte behinderter Menschen im gerichtlichen Streitverfahren geltend machen können. Dies umfasst alle Streitgegenstände nach dem SGB IX über die Gerichte zu entscheiden haben, mithin Streitverfahren vor den Gerichten der Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Es handelt sich dabei um eine sog. gesetzliche Prozessstandschaft, die nach § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ausdrücklich für das verwaltungsgerichtliche Streitverfahren als zulässig anerkannt ist (s. auch Kopp/ Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung 2000, vor § 40 Rz. 24). Danach ist die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Eine solche gesetzliche Bestimmung trifft nunmehr § 85. Mit der damit einhergehenden Einführung einer gesetzlichen Klagebefugnis werden die Rechte der Verbände, die behinderte Menschen vertreten, im gerichtlichen Verfahren erheblich gestärkt. Zugleich wird dem in der Praxis vielfach bemängelten Umstand begegnet, dass eine sog. gewillkürte Prozessstandschaft der Verbände im Verwaltungsprozess wie auch im Sozialgerichtsprozess ausgeschlossen oder stark eingeschränkt ist. So wird sie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch für allgemeine Leistungsklagen abgelehnt (vgl. Kopp/ Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung 2000, vor § 40 Rz. 25 f). Ihr Ausschluss ergibt sich für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen bereits aus dem Gesetz. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren ist nach § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG nur die Verfolgung eigener Rechte im Wege der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Auch hier wird durch § 63 diese Bestimmung geschaffen. Für die Zulässigkeit einer gewillkürten Prozessstandschaft setzt das Bundessozialgericht (BSG) ein eigenes Rechtsschutzinteresse des Dritten voraus (BSG, SozR 54 § 59 SGG; BSGE 10 S. 134; BSGE 37 S. 35). Hieran fehlt es regelmäßig, wenn eine Verletzung der Rechte eines Einzelnen im Rechtsweg beanstandet wird.
Rz. 4
Die gegen das Klagerecht der Verbände im Gesetzgebungsverfahren zum SGB IX 2001 durch den Deutschen Anwaltverein vorgebrachte Kritik an einer dadurch intendierten extremen Bevormundung des behinderten Menschen durch Verbände, die keinerlei Qualifikation bzw. Qualitätsstandards nachweisen müssten, und damit einhergehend an einer Verletzung der Grundrechte der betroffenen Behinderten durch die Regelung ist vor dem Hintergrund der ohnehin bereits nach dem SGG möglichen Prozessstandschaft in anderen Fällen – z. B. bei Klagen des Arbeitgebers wegen Kurzarbeitergeldes oder Schlechtwettergeldes (vgl. hierzu Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz 1998; § 54 Rz. 11 m. w. N.) – nicht gerechtfertigt. Behinderte Menschen genießen keinen geringeren Schutz als andere Personen, deren Rechte im Wege der Prozessstandschaft geltend gemacht werden können. Im Übrigen sind sie oft, insbesondere wenn Verwandte oder Ehegatten, bei denen die Bevollmächtigung im sozialgerichtlichen Verfahren unterstellt wird (§ 73 Abs. 2 Satz 2 SGG), nicht oder unzulänglich als Beistand (§ 67 Abs. 2 VwGO) ihre Interessen vertreten können, durch Behindertenverbände bereits im Vorverfahren betreut und beraten. Die gerichtliche Geltendmachung ihrer Rechte im Namen des betreuenden Verbandes erleichtert vielfach dem ängstl...