Rz. 4
Je früher ein Teilhabebedarf wegen einer drohenden bzw. bereits eingetretenen Behinderung erkannt wird, desto größer sind die Chancen, den Eintritt einer Behinderung oder ihre Verschlimmerung zu vermeiden oder die Auswirkungen einer Behinderung im Lebensalltag des Betroffenen abzufedern. Außerdem hat sich seit langer Zeit die Erkenntnis durchgesetzt, dass früh einsetzende Rehabilitations- und sonstige Teilhabeleistungen (§ 5) umso effektiver und effizienter sind, je früher die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden.
Die Vorschrift des § 9 fußt auf diesen Erkenntnissen. Deshalb werden die Rehabilitationsträger aufgefordert, während ihres Verwaltungshandelns die Erfolgsaussichten von möglichen Teilhabeleistungen zu prüfen, damit frühzeitig geeignete und wirksame Leistungen zur Teilhabe eingeleitet werden können.
Kann durch eine Teilhabeleistung voraussichtlich keine Besserung bei den Zielfeldern des § 9 erreicht werden, besteht auch kein Anspruch auf die zusätzliche Teilhabeleistung.
Rz. 5
§ 9 verpflichtet die Rehabilitationsträger indirekt, zu jedem Zeitpunkt des Verwaltungshandelns die frühzeitige Einleitung von Teilhabeleistungen zu prüfen – nämlich
- bei der Antragsbearbeitung,
- in angemessenen zeitlichen Abständen bei der Ausführung der Leistung und
- bei der Auswertung von Abschlussberichten.
Die Prüfungen sind von Amts wegen vorzunehmen und umfassen das gesamte, rehabilitationsträgerübergreifende Leistungsspektrum an Teilhabeleistungen i. S. d. § 5.
Die Prüfungspflicht nach Abs. 1 ersetzt nicht die Antragstellung, jedoch greift bei einem möglichen Teilhabebedarf die Hinwirkungspflicht nach § 12 Abs. 1, mit der die Antragstellung unterstützt wird.
Rz. 6
Das Verfahren zur Prüfung des Bedarfs an Leistungen zur Teilhabe ist losgelöst von dem eigentlichen Antrag auf Sozialleistungen zu sehen. Demgemäß hat z. B. die Ablehnung eines Antrags auf Erwerbsminderungsrente keinen Einfluss auf die Prüfung, ob bei dem Versicherten nicht doch ein weitergehender, rehabilitationsträgerübergreifender Teilhabebedarf besteht (z. B. wegen der Abwendung einer drohenden Pflegebedürftigkeit).
Die Prüfung des Teilhabebedarfs hat immer durch den leistenden Rehabilitationsträger i. S. d. § 14 zu erfolgen. Fühlt sich ein Rehabilitationsträger für die in Betracht kommenden Teilhabeleistungen aufgrund seines ihm zur Verfügung stehenden Leistungsspektrums nicht zuständig, kann er den Antrag innerhalb der Frist des § 14 weiterleiten. Der zweitangegangene Rehabilitationsträger hat dann zu leisten – und zwar nach den rehabilitationsträgerübergreifenden Vorschriften (= Gesamtleistungsspektrum aller Rehabilitationsträger; vgl. BSG, Urteil v. 21.8.2008, B 13 R 33/07 R, Rz. 35). Ihm obliegen dann auch die Pflichten des § 9.
Rz. 7
Bei der Prüfung i. S. d. § 9 hat der Rehabilitationsträger den individuellen Teilhabebedarf des Antragstellers funktionsbezogen festzustellen. Das Ergebnis dieser Feststellungen beinhaltet insbesondere die Klärung, zu welchen Arbeiten/Verrichtungen/Fähigkeiten der Betroffene körperlich, geistig oder seelisch (einschließlich Sinnesbeeinträchtigungen) nicht in der Lage ist und mit welchen Teilhabeleistungen mögliche Beeinträchtigungen/Fähigkeitsstörungen beseitigt oder gemindert werden können. Zur weiteren Klärung ist unter Umständen ein ergänzendes Sachverständigengutachten (§ 17) einzuholen. Im Übrigen gilt der Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X und das Prinzip der Meistbegünstigung (vgl. § 5 der GE Reha-Prozess).
Gemäß §§ 13 Abs. 2 und 19 Abs. 1 hat sich die Prüfung des Rehabilitations- und sonstigen Teilhabebedarfs an der ICF zu orientieren; logischerweise gilt dieses dann auch bei der Anwendung des § 9. Die ICF ist als biopsychosoziales Modell zu verstehen, mit deren Hilfe in Form einer Checkliste die Art der Schädigung der Körperfunktion bzw. der Schädigung der Körperstrukturen das Ausmaß der Teilhabestörung (Partizipation) individuell und differenziert dokumentiert werden kann – und zwar in Bezug zu folgenden Lebensbereichen:
- Lernen und Wissensanwendung (z. B. bewusste sinnliche Wahrnehmungen, elementares Lernen, Wissensanwendung),
- allgemeine Aufgaben und Anforderungen (z. B. Aufgaben übernehmen, die tägl. Routine durchführen, mit Stress umgehen),
- Kommunikation (z. B. Kommunizieren als Empfänger, als Sender, Konversation und Gebrauch von Kommunikationshilfen),
- Mobilität (z. B. die Körperposition ändern und aufrechterhalten, Gegenstände tragen, bewegen und handhaben, gehen und sich fortbewegen, sich mit Transportmitteln fortbewegen),
- Selbstversorgung (z. B. sich waschen, pflegen, an- und auskleiden, die Toilette benutzen, essen, trinken, auf seine Gesundheit achten),
- häusliches Leben (z. B. Beschaffung von Lebensnotwendigkeiten, Haushaltsaufgaben, Haushaltsgegenstände pflegen und anderen helfen),
- interpersonelle Interaktionen und Beziehungen (z. B. allgemeine und besondere interpersonelle Interaktionen/Beziehungen),
- bedeutende Lebensbereiche des individuellen Menschen (z. B. Erziehung/Bildung, Arbeit und Beschäfti...