Rz. 10
Umstritten ist, ob die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts über die Beseitigung der Wirkungen des ursprünglichen, belastenden Verwaltungsakts hinaus auch die Wirkung hat, dass nunmehr eine erneute Regelung des Sachverhalts nicht ergehen kann (Freistellungswirkung). Vom reinen Begriff her enthält die Rücknahme eine solche Freistellungswirkung nicht; die Rücknahme besagt lediglich, dass der Regelungsgehalt des ursprünglichen Verwaltungsakts vollständig beseitigt wird. Damit ist aber nicht gleichzeitig gesagt, dass nun keine neue Regelung des entsprechenden Sachverhalts mehr erfolgen wird, sondern lediglich, dass der Sachverhalt nunmehr ungeregelt ist. Die Behörde erhält damit grundsätzlich das Recht zu einer neuen, anderweitigen Regelung, die der Sach- und Rechtslage entspricht.
Rz. 11
Wenn die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts auch begrifflich nicht ohne Weiteres eine Freistellung von einer Belastung aus dem dem zurückgenommenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sachverhalt enthält, kann die Finanzbehörde doch im Zusammenhang mit einer Rücknahme eine solche Freistellung erteilen. Insbes. bei Ermessensentscheidungen kann die Behörde zum Ausdruck bringen, dass sie auf eine Belastung des Stpfl. verzichtet. Der Sache nach handelt es sich um zwei Verwaltungsakte, die äußerlich in einer Urkunde verbunden sind. Ob eine solche Freistellung erteilt ist, hängt nach der Erklärungstheorie, § 124 AO, davon ab, ob ein redlicher Empfänger der Rücknahme entnehmen konnte, dass er mit einer Belastung aus dem fraglichen Sachverhalt nicht mehr zu rechnen braucht. Das ist etwa bei Formulierungen der Fall, nach denen der ursprüngliche Verwaltungsakt "ersatzlos" aufgehoben oder zurückgenommen wird; der Ausdruck "ersatzlos" bringt eindeutig zum Ausdruck, dass die Behörde aufgrund ihres Ermessens von einer erneuten belastenden Regelung dieses Sachverhalts absehen will. Entsprechendes gilt für ähnliche Formulierungen. Eine solche Freistellung ist ein der Bestandskraft fähiger, begünstigender Verwaltungsakt, der seinerseits nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO zurückgenommen werden kann.
Zur Rechtslage bei gebundenen Verwaltungsakten vgl. G. Frotscher, in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 155 AO Rz. 28f.
Rz. 12
Enthält die Rücknahme nicht eine ausdrückliche Freistellung i. d. S., kann sie trotzdem wie eine Freistellung wirken, wenn der Betroffene nach Lage der Umstände nach Treu und Glauben in der Rücknahme eine Freistellung sehen und daher darauf vertrauen konnte, dass keine belastende Regelung mehr erfolgen würde. Für den Betroffenen müssen in der Rücknahmeverfügung bzw. dem Verhalten der Behörde Anzeichen ersichtlich sein, aus denen er schließen kann, dass die Finanzbehörde mit der Rücknahme des Verwaltungsakts auf eine Regelung des Sachverhalts verzichtet. Verursacht die Finanzbehörde den Anschein einer Freistellung, weil aus der Aufhebungsverfügung nicht ersichtlich ist, dass eine neue Regelung folgen soll, kann der Betroffene hierauf vertrauen mit der Folge, dass ihm diese günstige Position nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO entzogen werden kann. Die Finanzbehörde muss also, wenn sie nach der Rücknahme eines Verwaltungsakts den Erlass eines erneuten belastenden Verwaltungsakts bewirkt, in der Rücknahme ausdrücklich darauf hinweisen ("Zur Regelung des … Sachverhalts ergeht ein neuer Bescheid"), oder sie muss die neue Regelung gleich mit der Rücknahme verbinden. Nur so kann das Entstehen eines schutzwürdigen Vertrauens beim Betroffenen verhindert werden.
Zu der damit zusammenhängenden Frage, ob die Belastung eines belastenden Verwaltungsakts erhöht werden kann, vgl. Rz. 19ff.