Rz. 20
Die Erfassung des Unrechtsgehalts einer Handlung (vgl. Rz. 12) in Tatbestandsmerkmalen (vgl. Rz. 13ff.) ist nicht immer ohne Rückgriff auf außerstrafrechtliche Rechtsnormen möglich. Das Tatbestandsmerkmal ist nicht aus sich heraus verständlich, sondern nur in Zusammenschau mit einer anderen Norm, die das Tatbestandsmerkmal ausfüllt. Das in dieser Form gestaltete Tatbestandsmerkmal ist also ein Blankettmerkmal, das durch außerstrafrechtliche Wertungen ausfüllungsbedürftig ist.
Ob es sich bei § 370 AO um einen Blankettstrafbestand handelt, ist heftig umstritten. Die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur bejahen dies. Ein anderer Teil des Schrifttums verneint hingegen, dass es sich bei § 370 AO um eine Blankettvorschrift handelt. Bei allen Tatbestandsmerkmalen handele es sich um normative Tatbestandsmerkmale, was deutliche Auswirkungen im Hinblick auf den Vorsatz hat. Eine dritte Meinung differenziert bei der Frage nach dem Vorliegen eines Blanketttatbestands zwischen der Begehungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO und den Unterlassensvarianten der Nr. 2 und 3. Widersprüchlich insoweit die Darstellung bei Joecks.
Rz. 21
Ausgehend von der Rechtsprechung ist festzustellen, dass gerade im Steuerstrafrecht sog. Blankettvorschriften häufig zu finden sind, d. h. Straftatbestände, die für die Überprüfung der Tatbestandsmäßigkeit einen Rückgriff auf andere außerstrafrechtliche Vorschriften erfordern. Solche Blankettvorschriften sind im materiellen Strafrecht zulässig. Ob die Voraussetzungen der Straftat erfüllt sind, bestimmt sich damit nach den Vorschriften des materiellen Steuerrechts. Auch diese unterliegen der Interpretation durch das Strafgericht, da sie in den Straftatbestand "hineinzulesen" sind. Bei der Verurteilung muss das Gericht feststellen und im Urteil darlegen, welcher Steuerentstehungstatbestand als ausfüllende Norm für § 370 AO herangezogen werden soll. Allerdings müssen Blankettvorschriften, wenn sie die Strafbarkeit einer Handlung begründen sollen, inhaltlich genügend bestimmt sein, d. h. die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen entweder im Blankettgesetz selbst oder in einem anderen in Bezug genommenen Gesetz hinreichend deutlich umschrieben sein.
Rz. 22
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass gerade die Rspr. im Hinblick auf die Verwendung des Begriffs der Blankettvorschrift teilweise die zugrundeliegenden Definitionen aus dem Blick verliert. Würde es sich bei § 370 Abs. 1 AO um eine Blankettvorschrift handeln, so dürfte das verbotene Verhalten nicht vollständig in der Norm umschrieben sein, sondern das Verbot würde sich erst aus der Zusammenschau mit den in Bezug genommenen Normen vollständig erfassen lassen. § 370 Abs. 1 AO enthält jedoch keinen expliziten Verweis auf andere steuerrechtliche Regelungen nach Art der üblichen Regelungen (z. B. "Wer entgegen § 13 Abs. 1 …"), sondern prägt selbst nähere und fassbare Tatbestandsmerkmale aus, die schon für sich allein betrachtet eine bestimmte in sich geschlossene Vorstellung vom Unrecht der Tat zum Ausdruck bringen. § 370 Abs. 1 AO enthält folglich selbst den vollständigen Tatbestand der Steuerhinterziehung und die Sanktion, sodass die Steuergesetze nur zur Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale heranzuziehen sind.
Somit ist das Verbot, Steuern zu hinterziehen, vollständig in § 370 Abs. 1 AO enthalten. Folglich ist auch davon auszugehen, dass es sich bei den Tatbestandsmerkmalen "steuerlich erhebliche Tatsachen", "Steuern verkürzt" oder "Steuervorteile erlangt" um normative Tatbestandsmerkmale handelt. Dies entspricht im Übrigen auch der Behandlung von Irrtümern i. S. d. Steueranspruchstheorie des BGH (vgl. Rz. 112f.), die sich insoweit selbst widerlegt, da die Steueranspruchstheorie mit der Ansicht, dass § 370 Abs. 1 AO im Hinblick auf die vorgenannten Merkmale eine Blankettvorschrift sei, nicht vereinbar ist.
Rz. 23
Bei dem Tatbestandsmerkmal "pflichtwidrig" in § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO dürfte es sich hingegen nicht um ein normatives Tatbestandmerkmal, sondern um ein Blankettmerkmal handeln, da die Tathandlung nur zu begreifen ist, wenn man das gesamte Steuerrecht als Quelle der Verpflichtung mitdenkt. § 370 AO lässt selbst keine Rückschlüsse zu, wann das Unterlassen pflichtwidrig ist.