Rz. 23a

Die selbstständige Ermittlungskompetenz der Finanzbehörde besteht nur unter Vorbehalt des § 386 Abs. 3 und 4 AO. Bei einem Verlust der selbstständigen Ermittlungskompetenz verbleibt der Finanzbehörde die allgemeine Ermittlungskompetenz als Ermittlungsorgan der Staatsanwaltschaft nach § 402 AO i. V. m. § 399 Abs. 2 AO. Sie ist also auch dann nach dem Legalitätsprinzip verpflichtet, gebotene Ermittlungen vorzunehmen, insbesondere Eilmaßnahmen zu treffen. Aufgrund ihrer nunmehr polizeilichen Rechtsstellung ist die Finanzbehörde verpflichtet, die Akten der Staatsanwaltschaft zuzuleiten.[1] Die Beteiligungsrechte der Finanzbehörde an den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen richten sich in diesem Fall nach § 403 AO.

 

Rz. 24

Nach § 386 Abs. 3 AO tritt für die Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 AO ein Verlust ihrer selbstständigen Ermittlungskompetenz kraft Gesetzes ein, wenn gegen den Beschuldigten ein Haft- oder Unterbringungsbefehl[2] erlassen worden ist. Der Grund für diese Regelung ist darin zu sehen, dass der Erlass eines Haft- oder Unterbringungsbefehls regelmäßig nur in größeren Steuerstrafsachen in Betracht kommt, für die die finanzbehördliche Abschlusskompetenz nicht ausreicht[3], die Vollstreckung des Befehls letztlich der Staatsanwaltschaft obliegt[4] und damit die Verfahrensleitung durch die Staatsanwaltschaft insgesamt angebracht erscheint.

 

Rz. 25

Der Übergang der Ermittlungskompetenz erfolgt mit Erlass des Haft- oder Unterbringungsbefehls durch das Gericht. Die Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 AO – nicht hingegen die Steuer- bzw. Zollfahndung – kann also die vorläufige Festnahme[5] vornehmen und den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls stellen, ohne dass der Kompetenzübergang ausgelöst wird.[6] Nach Nr. 22 Abs. 1 Nr. 2 AStBV (St) 2020 soll allerdings regelmäßig das Verfahren zuvor an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden. Diese Verwaltungsanweisung berührt jedoch die Rechtmäßigkeit einer gleichwohl von der Finanzbehörde vorgenommenen Antragstellung nicht. Wird der Antrag durch das Gericht abgelehnt, bleibt die Rechtsstellung der Finanzbehörde unverändert.[7] Erlassen ist der Haft- oder Unterbringungsbefehl, wenn er bei der Staatsanwaltschaft, die ihn zu vollstrecken hat, eingeht.[8]

 

Rz. 26

Der Erlass des Haft- oder Unterbringungsbefehls bewirkt einen endgültigen Übergang der Ermittlungskompetenz. Es ist also unerheblich, ob der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 StPO ausgesetzt oder der Haft- oder Unterbringungsbefehl im weiteren Verlauf des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wieder aufgehoben wird.[9] Eine Rückübertragung nach § 386 Abs. 4 S. 3 AO kommt nach einmal erlassenem Haftbefehl ebenfalls nicht in Betracht.[10] Dies schließt natürlich die unselbständige Ermittlungskompetenz der Finanzbehörde nach § 402 AO nicht aus.

 

Rz. 27

Der den Übergang der Ermittlungskompetenz auslösende Haft- oder Unterbringungsbefehl muss nach § 386 Abs. 3 AO wegen der Tat erlassen worden sein, also auch wegen des Verdachts der Steuerstraftat. Nicht erforderlich ist der Erlass des Haft- oder Unterbringungsbefehls nur wegen der Steuerstraftat.[11] Wird ein Haft- oder Unterbringungsbefehl wegen einer allgemeinen Straftat erlassen, die mit der Steuerstraftat keinen Zusammenhang hat, so wird hierdurch der Übergang der Ermittlungskompetenz nicht ausgelöst.[12]

Wurde umgekehrt die Steuerstraftat mit dem Allgemeindelikt, wegen der ein Haft- oder Unterbringungsbefehl ergangen ist, im Rahmen einer prozessualen Tat i. S. d. § 264 StPO begangen, so führt dies umgehend zur Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft.[13]

 

Rz. 28

Nach § 386 Abs. 3 AO erfolgt der Übergang der Ermittlungskompetenz, wenn der Haft- oder Unterbringungsbefehl gegen einen Beschuldigten erlassen worden ist, also gegen denjenigen, gegen den dieses konkrete Ermittlungsverfahren geführt wird.[14]

Besteht der Tatverdacht gegen mehrere Täter oder Teilnehmer, so löst schon ein Haft- oder Unterbringungsbefehl gegen einen Tatbeteiligten den Übergang der Ermittlungskompetenz auf die Staatsanwaltschaft aus. Die Finanzbehörde verliert ihre selbstständige Ermittlungsbefugnis insgesamt auch gegenüber den übrigen Tatbeteiligten.[15] Das Strafverfahren ist auch bei mehreren Beschuldigten als Einheit zu sehen.[16]

[1] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 386 AO Rz. 20.
[3] Randt, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 386 AO Rz. 35.
[4] Graf, in KK-StpO, 8. Aufl. 2019, § 114 StPO Rz. 1.
[6] Tormöhlen, in HHSp, AO/FGO, § 386 AO Rz. 60; Köhler, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 162 StPO Rz. 1; a. A. Peters, in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 386 AO Rz. 107.
[7] Tormöhlen, AO-StB 2013, 316.
[8] Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, Vor § 33 StPO Rz. 9 m. w. N.
[9] Randt, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 386 AO Rz. 38.
[10] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 386 AO Rz. 20.
[11] Tormöhlen, in HHSp, AO/FGO, § 386 AO Rz. 62.
[12] Randt, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht,...

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