Rz. 1

Im Interesse des Beschuldigten haben die Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft oder Finanzbehörde i. S. v. § 386 AO[1], und die Strafgerichte das Strafverfahren unter Berücksichtigung der jeweiligen Verhältnisse im Einzelfall in angemessener Zeit abzuwickeln.[2] Dieses Beschleunigungsgebot, wie es auch aus Art. 6 Abs. 1 MRK folgt und das als Amtspflicht gegenüber dem Beschuldigten besteht[3], schließt es aus, dass die Ermittlungsbehörden und Strafgerichte das Strafverfahren grundlos nicht betreiben oder ruhen lassen, d. h. die Fortführung aussetzen.[4]

 

Rz. 1a

Die Strafverfolgungsorgane dürfen demgemäß auch aus arbeitsökonomischen Gründen nicht auf die Klärung steuerrechtlicher Vorfragen durch die Finanzgerichtsbarkeit warten.[5] Über steuerrechtliche Fragen, die für das Steuerstrafverfahren vornehmlich deswegen relevant sind, weil die Steuerhinterziehung (s. Rz. 6) als Blankettvorschrift gestaltet ist[6], haben die Ermittlungsbehörden und Strafgerichte in eigener Kompetenz zu entscheiden.[7] In der Beurteilung des Sachverhalts und der Rechtsfragen besteht für das Strafverfahren keine rechtliche Bindung an die Rechtsansichten oder auch bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidungen der im Besteuerungsverfahren tätigen Finanzbehörde bzw. der Finanzgerichtsbarkeit.[8] Der Strafrichter hat insoweit die uneingeschränkte Kompetenz zur Entscheidung steuerrechtlicher Vorfragen.[9]

 

Rz. 2

Diese gegenseitige Unabhängigkeit beider Rechtsgebiete und Verfahren, wie sie auch in § 393 Abs. 1 AO dargestellt ist[10] und sich aus dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit[11] gebietet, birgt notwendig die Gefahr divergierender Entscheidungen.[12] Dieses kann nur dann ausgeschlossen werden, wenn den Ermittlungsbehörden und Strafgerichten die Möglichkeit eingeräumt wird, den Abschluss des Besteuerungsverfahrens[13] abzuwarten und Erkenntnisse für das Strafverfahren zu gewinnen. Eine rechtliche Bindung an die spätere steuerliche Entscheidung besteht allerdings auch dann nicht (s. Rz. 1a, 26).

§ 396 AO normiert eine Ausnahme vom strafprozessualen Beschleunigungsgebot im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsordnung.[14] Diesem Interesse an der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen in Fragen des Steuerrechts wird in dem durch § 396 AO gegebenen Rahmen immerhin dadurch Rechnung getragen, dass sogar eine Verlängerung der Verjährungsfrist erhalten geblieben ist.[15]

[1] Klaproth, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 386 AO Rz. 8a.
[2] Webel/Dumke, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 370 AO Rz. 228; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, Einleitung Rz. 160 m. w. N.
[3] Blomeyer, NJW 1977, 557.
[4] Zur Strafmilderung bei überlanger Verfahrensdauer s. Webel/Dumke, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 370 AO Rz. 229.
[5] Baumann, BB 1976, 753.
[7] S. § 262 StPO.
[9] BVerfG v. 15.10.1990, 2 BvR 385/87, HFR 1991, 45 m. w. N.; Brandenstein/Tsambikakis, in Flore/Tsambikakis, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2016, § 396 AO Rz. 2, 19.
[12] S. z. B. für die steuerliche Haftung trotz strafrechtlichem Freispruch BFH v. 29.10.1986, VII R 119/82, BFH/NV 1987, 362.
[14] OLG Karlsruhe v. 14.12.1984, 3 Ws 138/84, wistra 1985, 168; Baumann, BB 1976, 753; Jäger, in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023, § 396 AO Rz. 8; Gehm, NZWiSt 2012, 244, 248.
[15] S. Rz. 26; Seipl, in Gosch, AO/FGO, § 396 AO Rz. 7; zum Ermessen bei der Aussetzung s. Rz. 17a.

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