Rz. 20
Die Mehrwertsteuersystem-Richtlinie, durch die das Umsatzsteuerrecht innerhalb der EU weitgehend harmonisiert worden ist, ermächtigt die Mitgliedsstaaten in mehreren Vorschriften, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen sowie Missbrauch zu verhindern. Dementsprechend ist § 42 AO auch im Umsatzsteuerrecht anwendbar. Die Vorschrift normiert einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der nach der Rspr. des EuGH auch im Mehrwertsteuerrecht gilt. Danach liegt ein Missbrauch vor, wenn die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der MwStSystRL und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
Rz. 21
Auch die Fusionsrichtlinie, die Mutter-Tochter-Richtlinie und die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie, die punktuelle Regelungen zur Harmonisierung der direkten Steuern enthalten, stehen unter dem Vorbehalt nationaler Missbrauchsregelungen.
Rz. 22
Die Richtlinie mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 12.7.2016, die für alle Stpfl. gilt, die in einem oder mehreren Mitgliedsstaaten körperschaftsteuerpflichtig sind, und nach der Abkürzung ihrer englischsprachigen Bezeichnung "Anti Tax Avoidance Directive" allgemein als ATAD bezeichnet wird, enthält in Art. 6 eine allgemeine Missbrauchsvorschrift, die von den Mitgliedsstaaten bis zum 31.1.2018 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen war. Die Vorschrift, die nicht nur auf grenzüberschreitende, sondern auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar ist, lautet wie folgt:
"Artikel 6 Allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch
(1) Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen.
(2) Für die Zwecke von Absatz 1 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge solcher Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.
(3) Bleiben Gestaltungen oder eine Abfolge solcher Gestaltungen gemäß Absatz 1 unberücksichtigt, so wird die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht berechnet."
Rz. 23
Nach Auffassung des BMF werden die sich aus der ATAD ergebenden Mindeststandards durch § 42 AO national bereits erfüllt, sodass besondere gesetzgeberische Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie für nicht erforderlich gehalten wurden. In der Literatur wird diese Auffassung geteilt.
Tatsächlich deckt sich die aus den beiden ersten Absätzen des Art. 6 ATAD ergebende Missbrauchsdefinition weitestgehend mit derjenigen des § 42 Abs. 2 AO. Dass der mit der missbräuchlichen Gestaltung angestrebte Vorteil nicht ausdrücklich auch auf Dritte bezogen wird, ist schon deshalb unerheblich, weil die Richtlinie nach Art. 3 ATAD nur Mindeststandards aufstellt. Die in Abs. 2 enthaltene Beschränkung auf "triftige wirtschaftliche Gründe" zur Widerlegung der Unangemessenheit dürfte im Anwendungsbereich der Richtlinie keinen Unterschied zu § 42 Abs. 2 S. 2 AO begründen, weil außersteuerliche Gründe persönlicher Art bei Körperschaftsteuersubjekten nicht in Betracht kommen dürften. Die in Abs. 2 ausdrücklich genannte "Abfolge" von Gestaltungen beschreibt Sachverhalte, die nach der sog. Gesamtplanrechtsprechung des BFH auch von § 42 AO erfasst werden.
Ob die Vorgaben des Art. 6 ATAD durch Entscheidungen des EuGH im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren Auswirkungen auf die Auslegung und Anwendung des § 42 AO haben werden, bleibt abzuwarten.