Prof. Dr. Alexander Kratzsch
Rz. 6
Vorübergehendes Verweilen ist nach der Formulierung des § 9 S. 1 AO das Gegenteil zum dauernden, gewöhnlichen Aufenthalt. Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen setzt eine längere Verweildauer voraus. Ein kurzfristiger Aufenthalt ist kein nicht nur vorübergehendes Verweilen. Mehrere kurzfristige Aufenthalte reichen regelmäßig ebenfalls nicht aus. Eine Mindestdauer für den tatsächlichen Aufenthalt ist dagegen nicht erforderlich, da die Annahme des gewöhnlichen Aufenthalts nach dem Willen des Gesetzgebers bei der Anwendung des § 9 S. 1 AO nicht stets im Rückblick nach der wirklichen Dauer der Anwesenheit, sondern nach den Aufenthaltsumständen "ex ante" zu beurteilen ist. Maßgebend ist daher eine Prognose, die nach Maßgabe eines verobjektivierten Empfängerhorizonts vorzunehmen ist. Der tatsächliche Zeitraum des Aufenthalts kann deswegen kürzer als 6 Monate sein. Dass dies vom Gesetz so gewollt ist, zeigt bereits das Nebeneinander der S. 1 und 2 des § 9 AO. Sonst wäre nämlich S. 1 neben der Regelung des S. 2 überflüssig, der allein auf die Dauer von 6 Monaten abstellt und die Umstände unbeachtet lässt. Die 6-Monatsfrist begründet für die Beurteilung im Rahmen des § 9 S. 1 AO nur ein erstes Indiz. Entscheidend ist vielmehr, ob der Stpfl. nach den Gesamtumständen des Einzelfalls den persönlichen und geschäftlichen Lebensmittelpunkt dauerhaft ins Inland oder Ausland verlegt hat. Bei Zeiträumen von über einem Jahr wird i. d. R. von der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen sein. Bei einem geplanten Aufenthalt zwischen sechs Monaten und einem Jahr ist der Zweck des Aufenthalts besonders zu gewichten. Dabei ist die Ausnahmeregelung des § 9 S. 3 AO in ihrem Grundgedanken auch bei der Gesamtabwägung nach § 9 S. 1 AO zu berücksichtigen mit der Folge, dass bei den in § 9 S. 3 AO genannten privaten Zwecken die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts i. d. R. ausscheidet. So entsteht auch dann eine unbeschränkte Steuerpflicht i. S. v. § 1 Abs. 1 EStG, wenn der Aufenthalt im Inland länger als 6 Monate dauern soll, ein Verweilen an einem bestimmten Ort aber nicht beabsichtigt ist und keine privaten Zwecke i. S. v. § 9 S. 3 AO vorliegen. Ist allerdings ein berufsbedingter Aufenthalt von 5 Monaten von vornherein zeitlich befristet beabsichtigt, scheidet ein gewöhnlicher Aufenthalt aus.
Maßgebend für den gewöhnlichen Aufenthalt sind die gesamten äußeren, objektiven Umstände, aus denen auf die beabsichtigte oder sonst zu erwartende Aufenthaltsdauer geschlossen werden kann. Allein die Länge des Aufenthalts ist nicht ausschlaggebend. Bei einer kurzen Aufenthaltsdauer müssen die Gesamtumstände, die für einen dauernden Aufenthalt sprechen, besonders gewichtig sein. So ist die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts auch nach kurzem Aufenthalt möglich, wenn eine lange Aufenthaltsdauer (m. E. bei einem beabsichtigen Aufenthalt von mehr als 6 Monaten) geplant war, aber durch ein unvorhersehbares Ereignis der Aufenthalt abgebrochen werden musste. Nähert sich die Aufenthaltsdauer 6 Monaten, so deutet dies bereits auf das Vorhandensein solcher Umstände hin. Das soll z. B. gelten, wenn ein Stpfl. sich 5 Monate im Inland aufgehalten hat und nach 3 Monaten Auslandsaufenthalt wieder ins Inland zurückgekehrt ist. Auch wenn ein längerer Inlandsaufenthalt mehrfach durch Auslandsaufenthalte unterbrochen wird, die nicht kurzfristig sind, so kann trotz Fehlens der Voraussetzungen des § 9 S. 2 AO ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland gegeben sein. Das ist bei Inlandsaufenthalten von einem Jahr und mehr anzunehmen. Dies gilt m. E. auch bei Unterbrechungen, soweit diese i. V. m. den Gesamtumständen auf eine Rückkehrabsicht schließen lassen. Bei einem Auslandsaufenthalt von mehr als einem Jahr wird ein (fortbestehender) inländischer gewöhnlicher Aufenthalt nur noch ausnahmsweise vorliegen. Bei Auslandsaufenthalten von mehr als 6 Monaten kann entsprechend zu § 9 S. 2 AO der gewöhnliche Aufenthalt im Inland und damit die unbeschränkte Steuerpflicht im Regelfall beendet sein; dabei ist allerdings auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Die Frist von mehr als sechs Monaten begründet einen (ersten) Anhalt für eine Vermutung, dass kein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland mehr besteht, es sei denn, dass besondere Umstände den Schluss zulassen, dass die Beziehungen zum Inland erhalten bleiben sollen.
Rz. 6a
Ein gewöhnlicher Aufenthalt ist nicht zwangsläufig übereinstimmend für die Familienmitglieder zu bejahen. Bei Eheleuten ist der gewöhnliche Aufenthalt jedes Ehegatten vielmehr gesondert zu beurteilen. Bei intakter Ehe wird grundsätzlich ein gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt vorliegen. Kinder können ebenso einen vom Aufenthaltsort der Eltern abweichenden gewöhnlichen Aufenthalt begründen; minderjährige Kinder haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt allerdings regelmäßig bei ihren Eltern.
Keinen dauernden, gewöhnlichen Aufenthalt haben nach dem Gesamtbild die sog. Grenzgänger,...