Rz. 12
Aus Art. 103 Abs. 2 GG sowie Art. 49 Abs. 1 EU-GrCh ergibt sich das sog. Gesetzlichkeitsgebot. Nach dem Grundsatz nullum crimen sine lege (kein Verbrechen ohne Gesetz) kann eine Tat einerseits nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Diese Garantie findet sich ferner in Art. 7 EMRK. Andererseits muss gem. Art. 103 Abs. 2 GG die Art der Strafe und ihre Höhe im Gesetz vorgezeichnet sein, nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz).
Rz. 13
Dieses Gesetzlichkeitsprinzip hat somit zwei Funktionen: Es verlangt als besonderer Gesetzesvorbehalt von dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, dass er selbst die grundlegende Verantwortung dafür trägt, in welchem Umfang und in welchen Bereichen das Strafrecht als der intensivste Eingriff in die individuelle Freiheit eingesetzt wird. Darüber hinaus gewährleistet es auf der Ebene der Bürger, dass jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten und mit welcher Strafe bedroht ist.
Rz. 14
Aus Art. 103 Abs. 2 GG ergibt sich somit auch das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot. Entsprechendes ergibt sich auch aus Art. 49 I EU-GrCh. Daraus ergibt sich für den Gesetzgeber die Verpflichtung, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu beschreiben, dass "Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen". Ein insoweit unbestimmtes Gesetz kann den Bürger nicht vor Willkür schützen. Die Strafnorm muss umso präziser sein, je schwerer die angedrohte Strafe ist.
Rz. 15
Daraus ergibt sich für den Gesetzgeber jedoch nicht, dass er den vollständigen Tatbestand in einer einzigen Norm regeln müsste. Auch Verweisungen sind zulässig, was auch für die Blankettvorschrift des § 370 AO von Bedeutung ist. Ob eine Tathandlung i. S. d. § 370 AO vorliegt und der Taterfolg eingetreten ist, bestimmt sich nicht nach § 370 AO, sondern nach den Vorschriften des materiellen Steuerrechts, die in den Straftatbestand des § 370 AO "hineinzulesen" sind. Insoweit ist es auch unerheblich, ob der Bundesgesetzgeber auf bundesgesetzliche (Steuer-)Gesetze oder auf Normen und Begriffe des Unionsrechts verweist.
Rz. 16
Der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot gilt folgerichtig allerdings nicht nur für die Strafnorm selbst, sondern auch für die Vorschriften der AO und der Einzelsteuergesetze, die die steuerstrafrechtlichen Normen ausfüllen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit weniger streng sind, wenn die Vielgestaltigkeit und Komplexität des betroffenen Lebensbereichs es erfordern, so dass der Gesetzgeber mehr als Bestimmbarkeit nicht leisten kann. Die sich daraus für den Gesetzgeber ergebenden Freiheiten sind allerdings nicht grenzenlos, so dass z. B. im Hinblick auf eine Steuerhinterziehung gem. § 370 AO i. V. m. § 42 AO und damit in Form des § 42 AO auf einen wertungsabhängigen Tatbestand das Bestimmtheitsgebot und auch das Analogieverbot durchaus zu berücksichtigen sind. Allein maßgeblich ist somit, ob die grundrechtlichen Anforderungen – insb. in Form der Bestimmtheit – bei Betrachtung der Gesamtheit der anzuwendenden Normen erfüllt werden und ob die Strafbarkeit auf einer Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers beruht. Der Gesetzgeber darf somit die Entscheidung über die Strafbarkeit eines Verhaltens nicht auf den Verordnungsgeber delegieren, auch nicht im Wege sog. Rückverweisungsklauseln.
Rz. 17
Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass Art. 103 Abs. 2 GG zwar im strafrechtlichen Kontext auch für die in Bezug genommenen Normen des Steuerrechts gilt, dass Art. 103 Abs. 2 GG hingegen nicht anwendbar ist, wenn dieselben Normen des materiellen Steuerrechts im Rahmen der Besteuerung angewendet werden. Die sich daraus ergebende unterschiedliche Auslegung der jeweiligen Norm im Strafrecht einerseits und im Steuerrecht andererseits ist aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben erforderlich und hinzunehmen.
Rz. 18
Auch die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen kann aufgrund der Komplexität der zu regelnden Materie zulässig sein, selbst wenn sie in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen. Es ist insoweit ausreichend, wenn für den normunterworfenen Bürger die Möglichkeit besteht, mittels der üblichen Auslegungsmethoden oder auf der Basis einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Norm zu gewinnen, auf der erkennbar ist, ob die Möglichkeit einer Bestrafung besteht.
Die Feststellung, ob eine Norm gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt und somit verfassungswidrig ist, obliegt gem. Art. 100 Abs. 1 GG allein dem BVerfG. Zu einer Entscheidung des BVerfG kann es durch die Vorlage eines (Fach-)Gerichts kommen, wenn das Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer entscheidungserheblichen Norm überzeugt ist und diese nicht dur...