Rz. 32
Die Prozessfähigkeit ist eine Sachentscheidungs- und Prozesshandlungsvoraussetzung, die bei jeder einzelnen Verfahrenshandlung vorliegen muss (s. Rz. 6). Sie ist von Amts wegen zu beachten, und zwar zu jedem Zeitpunkt der einzelnen Handlung in jedem Stadium des Verfahrens, auch in der Revisionsinstanz (s. Rz. 36).
Rz. 33
Das Gericht darf bei Prozessunfähigkeit grundsätzlich (s. aber Rz. 21, 36) weder zur Sache verhandeln noch entscheiden. Ist die Prozessunfähigkeit erkennbar von vornherein gegeben, so ist das Verfahren unzulässig. Die Klageerhebung bzw. Antragstellung ist nicht rechtswirksam, eine Sachentscheidung darf nicht ergehen (s. Rz. 32; vgl. BFH v. 28.3.2000, VIII R 6/99, BFH/NV 2000, 1074; BFH v. 14.12.2004, III B 115/03, BFH/NV 2005, 713).
Rz. 34
Tritt die Prozessunfähigkeit erkennbar im laufenden Verfahren ein, so ist die einzelne Verfahrenshandlung unwirksam.
Das Verfahren wird grundsätzlich unterbrochen. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Prozessunfähige durch einen rechtswirksam bestellten Bevollmächtigten vertreten ist (s. § 74 FGO Rz. 30). Die Wirksamkeit der Vollmacht wird gemäß § 155 FGO i. V. m. § 86 ZPO durch den Verlust der Prozessfähigkeit nicht berührt. Dies ist unabhängig davon, ob die Prozessfähigkeit vor oder nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Verfahrens verloren geht.
Mit der Genehmigung (s. Rz. 28) wird die Prozesshandlung grundsätzlich rückwirkend wirksam. Dies gilt auch im Fall der fehlerhaften Vertretung, selbst nach Ablauf der Klagefrist. Allerdings gilt dies nicht für den Beginn von Fristen (vgl. Dumke, in Schwarz, AO, § 79 Rz. 17 m. w. N.; Bedenken bei v. Groll, in Gräber, FGO, § 58 Rz. 3). Zum Schutz des Prozessunfähigen beginnen diese erst im Zeitpunkt der Genehmigung. Rechtsmittelfristen beginnen erst im Zeitpunkt der Nachholung der Rechtsbehelfsbelehrung, da hinsichtlich des Fristbeginns keine ordnungsgemäße Belehrung vorliegt.
Rz. 35
Wird die Prozessunfähigkeit im finanzgerichtlichen Verfahren erst im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht, so muss der BFH hierzu eigene Feststellungen von Amts wegen (s. Rz. 6) treffen. Er kann selbst neue Tatsachen feststellen und berücksichtigen. Der BFH ist bei der Prüfung der Prozessfähigkeit grundsätzlich in der Auswahl seiner Beweismittel frei und überzeugt sich im Weg des Freibeweises. Dem BFH steht allerdings ein Ermessen zu, ob er selbst Beweis erhebt oder die Sache zur Klärung zurückverweist. Hierbei sind einerseits die weitere Prozessverzögerung, Verfahrenskosten abzuwägen gegen die Hauptaufgabe des BFH, über Rechtsfragen zu entscheiden.
Rz. 36
Die Entscheidung über die Prozessunfähigkeit ist im Rechtsmittelverfahren stets überprüfbar.
Hierbei ist der BFH bei der Feststellung der Prozessunfähigkeit nicht an die Wertung des FG gebunden (s. Rz. 36; BFH v. 1.9.2005, IX B 87/05, BFH/NV 2006, 94). Er hat die notwendigen Feststellungen selbst zu treffen, wobei er neue Tatsachen zu berücksichtigen hat (vgl. Spindler, in HHSp, AO, § 58 FGO Rz. 16 m. w. N.).
Die Revision, Nichtzulassungbeschwerde und Beschwerde sind zulässig, denn bis es rechtskräftig feststeht, dass die Prozessunfähigkeit vorliegt, ist der Beteiligte als prozessfähig zu behandeln (s. Rz. 21; vgl. z. B. BFH v. 18.10.1967, I R 144, 145/66, BStBl II 1968, 95; BFH v. 3.12.1971, III R 44/68, BStBl II 1972, 541 m. w. N.; BFH v. 15.2.1977, VII R 42/74, BStBl II 1977, 434; BFH v. 10.8.1989, V R 36/84, BFH/NV 1990, 386; BFH v. 11.12.2001, VI R 19/01, BFH/NV 2002, 651; BFH v. 10.4.2003, III B 86/01, BFH/NV 2003, 1197; BFH v. 1.9.2005, IX B 87/05, BFH/NV 2006, 94; BFH v. 12.10.2006, V B 160/05, BFH/NV 2007, 92; BFH v. 16.10.2006, IX B 177/05, BFH/NV 2007, 255; BFH v. 26.11.2007, III B 3/07, n. v.; vgl. auch BGH v. 13.7.1993, III ZB 17/93, NJW 1993, 2944 m. w. N.).
Rz. 37
Wird die Prozessunfähigkeit erst nach Rechtskraft des Urteils festgestellt, so ist die Nichtigkeitsklage nach § 134 FGO i. V. m. § 579 Abs. 1 S. 4 ZPO eröffnet.