Dipl.-Finw. (FH) Wilfried Mannek
Rz. 526
Für ertragsteuerliche Zwecke hatte sich die Finanzverwaltung bereits seit 1995 faktisch von der ausschließlichen Maßgeblichkeit des Stuttgarter Verfahrens nach den Vorgaben des § 11 Abs. 2 BewG und der Vermögensteuer- bzw. der nachfolgenden Erbschaftsteuer-Richtlinien gelöst. Grund dafür war insbesondere, dass die Übernahme der Steuerbilanzwerte zu geringeren Vermögenswerten und demzufolge zu nicht plausiblen Wertansätzen für die Anteile an Kapitalgesellschaften führte.
Rz. 527
Das Ertragsteuerrecht enthält keine besonderen Bewertungsvorschriften, die von den allgemeinen Bewertungsvorschriften (§§ 2 bis 16 BewG) des Bewertungsgesetzes abweichen. Insoweit stellte sich die Frage, ob das in Abschn. 4 ff. VStR 1995 geregelte Stuttgarter Verfahren für die Ertragsteuer bindend war. Denn die VStR behandelten "Zweifelsfragen und Auslegungsfragen von allgemeiner Bedeutung, um eine einheitliche Anwendung des Bewertungsrechts und des Vermögensteuerrechts durch die Behörden der Finanzverwaltung sicherzustellen". Damit erstreckte sich der Regelungsinhalt der VStR auch auf das "Bewertungsrecht". Ob damit das bei der Ertragsteuer anzuwendende Bewertungsrecht geregelt wurde, erschien zumindest für die Veranlagungszeiträume bis 1996 fraglich, weil die VStR bis dahin wegen der Erhebung der Vermögensteuer anzuwenden waren. Zwar wurden die VStR bei der Erbschaft-/Schenkungsteuer auch für Besteuerungszeitpunkte nach dem 31.12.1996 und vor dem 1.1.1999 hinsichtlich der Ertragskomponente des Stuttgarter Verfahrens mangels anderer Regelungen analog angewandt, denn die ErbStR 1999 regelten das Stuttgarter Verfahren für Zwecke der Erbschaft-/Schenkungsteuer erstmals für Besteuerungszeitpunkte nach dem 31.12.1998. Nach dem Wortlaut der Einführung der ErbStR 1999 handelte es sich um "Weisungen an die Finanzbehörden zur einheitlichen Anwendung des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts und der dazu notwendigen Regelungen des Bewertungsrechts". Daher konnte jedenfalls keine Bindungswirkung der ErbStR 2003 für Zwecke der Ertragsteuer abgeleitet werden.
Rz. 528
Zudem kann ohnehin die Auffassung vertreten werden, dass § 1 BewG nur an die Vorschriften des Bewertungsgesetzes, nicht jedoch an die hierzu ergangenen Verwaltungsanweisungen binde. Diese Auffassung haben jedenfalls die Steuer-Abteilungsleiter bereits im November 1995 vertreten und beschlossen, den gemeinen Wert bei der Ertragsteuer (§ 21 Abs. 2 UmwStG) nach dem allgemeinen Grundsatz des § 9 Abs. 2 BewG zu ermitteln. Damit ist allein der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr erzielbare Preis unter Berücksichtigung sämtlicher objektiver preisbeeinflussender Umstände der Bewertungsmaßstab. Wacker meint, diese Vorgehensweise sei mit der Rechtsprechung des BFH vereinbar. Zwar akzeptiere der BFH für den Bereich der Einkommensteuer grundsätzlich eine Wertberechnung nach dem Stuttgarter Verfahren. Dies jedoch nur unter der einschränkenden Voraussetzung, dass es bei Anwendung dieser Methode nicht zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung kommt. Blumers hält § 9 Abs. 2 BewG nun für eine Leerformel, die für sich gesehen nicht beantwortet, wie Anteile an einer Kapitalgesellschaft zutreffend zu bewerten sind. Den Bewertungsleitfaden der Oberfinanzdirektionen Düsseldorf und Münster in der ersten Fassung, der diese Lücke schließen soll, kritisiert Blumers unter dem Aspekt der Planungssicherheit.
Rz. 529
Eine eindeutige Trennung zwischen dem Stuttgarter Verfahren der ErbStR 2003 und der Ertragsteuer war mit dem Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 7.12.2006 (SEStEG) realisiert worden. Denn nach dem mit dem SEStEG in § 11 Abs. 2 BewG eingefügten Satz 3 gilt § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG nicht für ertragsteuerliche Zwecke. Nach der Gesetzesbegründung handelte es sich insoweit um eine Klarstellung, dass Anteile an Kapitalgesellschaften für ertragsteuerliche Zwecke nicht nach dem Stuttgarter Verfahren bewertet werden.
Die Bewertung von Kapitalgesellschaften und Anteilen an Kapitalgesellschaften konnte daher für Zwecke der Ertragsteuer nach den allgemeinen Regelungen für Unternehmensbewertungen erfolgen. In der Praxis erfolgt dies häufig nach einem für diesen Zweck konzipierten Leitfaden. Er enthält gegenüber den allgemeinen Regeln der Unternehmensbewertung Vereinfachungen. Für Bewertungen von Unternehmen mit sehr umfangreichem Vermögen erscheint der Leitfaden ungeeignet, da insoweit eine Unternehmensbewertung unter Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten unerlässlich sein dürfte. Nach Einführung des § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG a.F. hat die Finanzverwaltung bei der Bewertung von Anteilen für Zwecke der Ertragsteuer vermehrt auf den Leitfaden zurückgegriffen.