Rz. 53
Den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 9 AO hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes ist stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt, es sei denn, der Aufenthalt wird ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs-, Kur- oder ähnlichen privaten Zwecken genommen und dauert nicht länger als ein Jahr (s. § 9 Satz 3 AO sowie Rz. 62).
Hat jemand im Inland keinen Wohnsitz, so kann sich die unbeschränkte Steuerpflicht allein schon aus dem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland ergeben. Die Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt ist deshalb bei Verneinung des Wohnsitzes zusätzlich zu stellen. Umgekehrt kann bei der Bejahung des Wohnsitzes die Prüfung entfallen, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt. Ebenso kann die meist schwierige Wohnsitzprüfung unterbleiben, wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt.
Rz. 54
Der gewöhnliche Aufenthalt i.S.d. § 9 AO erfordert die beiden folgenden Voraussetzungen: gewöhnlicher Aufenthalt im Inland und Umstände, die erkennen lassen, dass er nicht nur vorübergehend ist. Der Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" knüpft sonach ebenso wie der Wohnsitzbegriff an äußere Umstände an. Die bloße Absicht, keinen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, ist, wenn sie zur tatsächlichen Gestaltung in Widerspruch steht, unerheblich. Der gewöhnliche Aufenthalt setzt keine ständige Anwesenheit voraus. Der tatsächliche Aufenthalt ist zwar ein Erfordernis, genügt aber allein nicht, weil der Aufenthalt "gewöhnlich" sein muss. Deshalb kann auch ein Aufenthalt unterbrochen werden – auch wiederholt –, weil er nur gewöhnlich sein muss, also nicht ständig zu sein braucht. Der mehr als sechs Monate dauernde Aufenthalt i.S.d. § 9 AO setzt also keine ununterbrochene körperliche Anwesenheit im Inland voraus; denn sonst wären die Beteiligten wohl stets in der Lage, den Aufenthalt durch ein kurzfristiges Verlassen des Inlandsgebiets zu unterbrechen und damit die Steuerpflicht zu vermeiden. Die Zeit einer kurzfristigen Abwesenheit vom Inland wird bei Berechnung der Sechs-Monate-Frist mitgezählt (s. Rz. 62). Es liegt im Wesen des gewöhnlichen Aufenthalts, dass i.d.R. kein ständiger Aufenthalt am gleichen Ort bestehen muss, ebenso dass es nur einen gewöhnlichen Aufenthalt geben kann. Mit der Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts wird immer der bisherige aufgegeben.
Rz. 55
Ein fester Mittelpunkt für den Aufenthalt braucht nicht zu bestehen. Deshalb kann auch ein dauerndes Umherziehen (z.B. als Schausteller) den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland begründen, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt nicht nur vorübergehend ist. Der gewöhnliche Aufenthalt kann auch schon dadurch begründet werden, dass jemand sich zwar immer nur vorübergehend, aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit das Inland zu seinem Aufenthalt wählt. Grenzgänger haben im Inland nicht schon deswegen ihren gewöhnlichen Aufenthalt, weil sie sich während der Arbeitszeit im Inland aufhalten. Nur wenn sie am Wochenende heimfahren ins Ausland, begründen sie einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.
Rz. 56
Zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ist keine Geschäftsfähigkeit erforderlich, weil hier nur die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend sind.
Rz. 57
Ein Aufenthalt ist nicht nur vorübergehend, wenn er sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Dieser Zeitraum braucht nicht sechs Monate zu betragen; auch ein kürzerer Aufenthalt kann einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen. Hierbei ist auch der Wille der Person von Bedeutung. Der gewöhnliche Aufenthalt ist ein Zustandsverhältnis, das nicht ohne weiteres beendet wird, wenn es an einem entsprechenden Willen fehlte. Er erlischt grundsätzlich erst dann, wenn neben der körperlichen Entfernung auch der Wille zur Rückkehr weggefallen ist. Auch der BFH hat in dem Urteil vom 27.7.1962 ausgesprochen, "vorübergehendes Verweilen" sei nicht dahin zu verstehen, dass es nur auf den äußeren Sachverhalt ankomme und der Wille des Steuerpflichtigen ohne Bedeutung sei. Der Wille des Steuerpflichtigen kann aber nach dieser Entscheidung dann keine Bedeutung haben, wenn die Person sich an einem Ort tatsächlich längere Zeit hindurch aufhält, ohne aus ihrem Willen, sich an diesem Ort nicht länger aufzuhalten, die entsprechenden Folgerungen zu ziehen.
Rz. 58
Auch die am 16.8.2012 in Kraft getretene Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO) vom 4.7.2012 vereinfacht nicht die oft schwierige Abwägung, wo der gewöhnliche Aufenthalt war. Zwar ist der letzte gewöhnliche Aufenthalt dafür entscheidend, welchem (Sach-)Recht des Staates die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen unterliegt (Art. 21 EuErbVO) und welches Gericht in Europa für ...