Rz. 100
Die Kinder und/oder der Ehegatte des Erblassers, nachrangig entferntere Abkömmlinge und seine Eltern sind pflichtteilsberechtigt, wenn sie letztwillig von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen wurden (§§ 2303 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 2309 BGB). Als reiner Geldanspruch i.H. der Hälfte des jeweiligen gesetzlichen Erbteils entsteht der Pflichtteilsanspruch – erst – mit dem Erbfall (§§ 2303 Abs. 1 Satz 2, 2317 Abs. 1 BGB). Gerichtet gegen den/die Erben, belastet er den Nachlass als sog. Erbfallschuld (§§ 1967 Abs. 2, 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB). Erlischt er nicht durch Erfüllung oder Erlass, fällt er beim Tod des Berechtigten selbstverständlich in dessen Nachlass (§ 1922 BGB) und wird Erblasserschuld bei Ableben des Verpflichteten (§ 1967 Abs. 1 BGB).
Rz. 101
Der originäre Pflichtteilsanspruch wird erbschaftsteuerlich nur bei Geltendmachung durch den Pflichtteilsgläubiger relevant. Erst dann entsteht der Erbschaftsteueranspruch (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3, 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG) und schon dann, nicht erst nach Klärung in einem Zivilprozess, liegt eine abziehbare Nachlassverbindlichkeit vor (§ 10 Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 Nr. 2 ErbStG). Allein die zivilrechtliche Entstehung des Pflichtteilsanspruchs und die damit verbundene Möglichkeit seiner Geltendmachung genügen nicht. Mit seiner Entstehung ist der Pflichtteilsanspruch übertragbar und vererblich. Beim Tod des Pflichtteilsberechtigten wird er daher von dessen Erben derivativ durch Erbanfall und insoweit erbschaftsteuerbar nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG von Todes wegen erworben auch dann, wenn er zuvor noch nicht geltend gemacht wurde.
Rz. 102
Der Verzicht auf die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs kann deshalb nur schenkungsteuerlich bedeutsam sein. Im Umkehrschluss aus § 13 Abs. 1 Nr. 11 ErbStG folgt allgemein, dass auch die Nichtgeltendmachung eines Anspruchs und nicht erst ein rechtswirksamer Schulderlass bereits eine steuerbare Bereicherung auslösen kann (§ 7 ErbStG Anm. 30). Konkret Pflichtteilsansprüche betreffend ist nach dem Zeitpunkt des Verzichts zu unterscheiden:
Rz. 103
Vor dem Erbfall verfügt der potenziell Pflichtteilsberechtigte lediglich über eine bloße Erwerbschance. Der Verzicht bewirkt keine greifbare Vermögensmehrung weder des späteren Erblassers noch der künftigen Miterben. Mangels schenkungsteuerbarer Bereicherung ist § 13 Abs. 1 Nr. 11 ErbStG noch nicht einschlägig.
Rz. 104
Nach dem Erbfall ist dies anders. Bereichert würden nun der/die durch die Erbfallschuld belasteten Erben. Der Erwerb von Todes wegen durch Erbanfall (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ErbStG) unterliegt jedoch vor Geltendmachung des Pflichtteils ohnehin zunächst ungeschmälert der Erbschaftsteuer. § 13 Abs. 1 Nr. 11 ErbStG wirkt daher als Kollisionsnorm, die verhindert, dass insoweit derselbe Vermögensvorteil zusätzlich noch schenkungsteuerlich erfasst wird. Ob auch ein in diesem Stadium rechtswirksam werdender Schulderlass schenkungsteuerfrei sein kann, erscheint zweifelhaft; da die Beteiligten eines Erlassvertrags das zwischen ihnen bestehende Schuldverhältnis mit verfügender Wirkung beenden (§ 397 BGB), impliziert dies notwendigerweise die Geltendmachung des Anspruchs durch den Gläubiger. Die Stundung zivilrechtlich entstandener Pflichtteilsansprüche ist allerdings nicht als ernsthaftes Erfüllungsverlangen zu verstehen, weshalb auch die Vereinbarung der zinslosen Stundung noch nicht geltend gemachter Pflichtteilsforderungen keine schenkungsteuerbare Bereicherung des/r Erben auslöst. Dies gilt ebenso im Falle der Stundung einer Abfindung bis zu seinem Ableben, die der überlebende Ehegatte mit den durch ein Berliner Testament benannten Schlusserben verabredet.
Rz. 105
Nach Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs ist § 13 Abs. 1 Nr. 11 ErbStG nicht mehr einschlägig. Da nun das erbrechtliche Schuldverhältnis der Beteiligten für Zwecke des ErbStG akzeptiert wird (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG), ist ein Verzicht des Pflichtteilsgläubigers auf sein geltend gemachtes Pflichtteilsrecht konsequent als freigebige Zuwendung an den/die Erben zu behandeln und nicht als nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO rückwirkende Beseitigung der Geltendmachung.
Rz. 106
Beachten Sie: Die mit dem Tod des Erblassers fixierte zivilrechtliche Rechtslage kann mittels Sachwertabfindung in Gestalt niedrig bewertbarer Vermögensgegenstände erbschaftsteuerlich optimiert werden. In Anbetracht der insoweit deckungsgleichen §§ 3 Abs. 2 Nr. 4, 13 Abs. 1 Nr. 11 ErbStG misslingt dieses "Kunststück" jedoch, wenn etwa schon das Abfindungsverlangen oder sogar die Abfindungsvereinbarung von den Erbschaft-/Schenkungsteuerbehörden als Geltendmachen des Pflichtteilsanspruchs qualifiziert wird. In derartigen Fällen hat die Abfindung nur Erfüllungswirkung (§ 364 BGB): Grundstücksübertragungen sind grunderwerbste...