Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsanspruch bei Organschaft. Aufrechnung im Insolvenzverfahren. Entstehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis nach der materiellen Rechtsgrundtheorie, nicht nach der formellen Rechtsgrundtheorie
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Bestehen eines Haftungsanspruchs nach § 73 S. 1 AO verlangt das Bestehen einer steuerrechtlich bedeutsamen Organschaft sowie das Entstehen einer Steuer zulasten des Organträgers.
2. Das FA kann bereits mit Haftungsforderungen aufrechnen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, ohne dass es des vorherigen Erlasses eines Haftungsbescheides, der Feststellung der Haftungsforderung oder ihrer Anmeldung zur Tabelle bedarf.
3. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen auch in steuerrechtlicher Hinsicht nicht erst gem. § 218 Abs. 1 AO durch Bescheide oder andere Verwaltungsakte, sondern werden durch diese nur verwirklicht (materielle Rechtsgrundtheorie). Die Steuerbescheide sind lediglich Grundlage für die Erfüllung des entstandenen und dann festgesetzten Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Erhebungsverfahren.
4. Der sog. formellen Rechtsgrundtheorie, die die Festsetzung des Anspruchs als Grund für die Zahlung ansieht, kann nicht gefolgt werden.
Normenkette
AO § 37 Abs. 2, § 218 Abs. 1-2, § 251 Abs. 3, §§ 73, 191 Abs. 1 Nr. 1, § 226; InsO § 95 Abs. 1 S. 1, § 96 Abs. 1 Nrn. 1, 3; BGB § 387
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist die Befugnis des Beklagten zur Aufrechnung.
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der A GmbH. Über ihr Vermögen wurde durch das Amtsgericht B am TT.MM.JJJJ das Insolvenzverfahren eröffnet.
Am 21. Dezember 2011 meldete das Finanzamt B Forderungen für Umsatzsteuer September 2011 über 16.467,08 EUR und für Umsatzsteuer 2011 über 35.135,95 EUR zur Insolvenztabelle an. Nachdem diese Forderungen durch den Verwalter bestritten wurden, erließ das Finanzamt Feststellungsbescheide nach § 251 Abs. 3 Abgabenordnung (AO) am 2. Dezember 2012 für Umsatzsteuer September 2011 und am 17. Januar 2013 für Umsatzsteuer 2011, gegen die Einspruch eingelegt wurde.
Bereits mit Schreiben vom 20. Juni 2012 hatte der Kläger hinsichtlich dieser Forderungsanmeldung dem Beklagten mitgeteilt, dass eine Prüfung der vorliegenden Unterlagen ergeben habe, dass zwischen der GmbH und dem Einzelunternehmen C, über dessen Vermögen ebenfalls am TT.MM.JJJJ das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, eine bisher nicht erkannte umsatzsteuerliche Organschaft vorgelegen habe. Die Insolvenzschuldnerin A GmbH sei nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers C eingegliedert gewesen und habe deshalb eine Organgesellschaft dargestellt. Als Organgesellschaft sei die GmbH bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens kein Unternehmer im umsatzsteuerlichen Sinne gewesen. Eine Anerkennung der angemeldeten Umsatzsteuerforderungen komme daher nicht in Betracht. Es werde beantragt, sämtliche umsatzsteuerlichen Veranlagungen der GmbH aufzuheben.
Nachdem das für D zuständige Finanzamt E die umsatzsteuerliche Organschaft zwischen Herrn D als Organträger und der GmbH als Organgesellschaft anerkannt hatte, wurden die o.g. Feststellungsbescheide mit Schreiben des Beklagten vom 12. Mai 2014 widerrufen.
Zuvor, mit Schreiben vom 8. Mai 2014, hatte das Finanzamt E eine sog. Haftungsberechnung nach § 191 AO i. V. m. § 73 AO vorgenommen und dem Insolvenzverwalter als Grundlage einer Anmeldung von Forderungen zur Tabelle im Insolvenzverfahren der GmbH zugestellt. Darin wird dargestellt, dass die GmbH in Höhe von 276.520,76 EUR als Organgesellschaft für vom Organträger geschuldete Umsatzsteuern und Nebenleistungen nach § 73 AO haftet und für den genannten Betrag als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird. Das Finanzamt E hat dabei Umsätze der GmbH aus der Zeit vom 1. Januar 2011 bis zum 30. November 2011 und abziehbare Vorsteuern zugrunde gelegt und die Haftungssumme auf die Steuern beschränkt, die die GmbH ohne die Organschaft selbst zu tragen hätte.
Die von der GmbH ursprünglich aufgrund ihrer eigenen Voranmeldungen bereits bezahlten Umsatzsteuern für 2011 waren – aus Sicht des Beklagten – als Guthaben in Höhe von 122.212,81 EUR frei. Mit Umbuchungsmitteilung vom 30. Mai 2014 verrechnete das Finanzamt B dieses Guthaben mit der vom Finanzamt E zur Tabelle angemeldeten Haftungsschuld der GmbH aus § 73 AO bezüglich der vom Organträger geschuldeten Umsatzsteuern der Monate Oktober und November 2011.
Mit Schreiben vom 19. Juni 2014 machte der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhof (BFH) vom 2. November 2010 VII R 6/10 ((Bundessteuerblatt – BStBl II 2011, 374) geltend, dass diese Aufrechnung gem. § 96 Abs.1 Nr. 3 der Insolvenzordnung (InsO) unzulässig sei, weil die Insolvenzforderungen des Finanzamts E aus dem Zeitraum nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens resultieren würden und beantragte ...