Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichterhebung der Umsatzsteuer nach § 19 UStG 1980 bei steuerfreien Umsätzen im vorangegangenen Kalenderjahr und Erweiterung des Unternehmens im laufenden Kalenderjahr - keine Zurückverweisung bei Änderungsbescheid trotz fehlender tatsächlicher Feststellungen
Leitsatz (amtlich)
1. Die für die Besteuerung als Kleinunternehmer in § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG 1980 bezeichnete Umsatzgrenze von 20 000 DM (25 000 DM) ist auch dann maßgeblich, wenn die von dem Unternehmer im vorangegangenen Kalenderjahr ausgeführten Umsätze nach § 4 Nr. 11 UStG 1980 steuerfrei waren.
2. Für die Frage, ob der Gesamtumsatz des Unternehmers im laufenden Kalenderjahr 100 000 DM voraussichtlich nicht übersteigen wird, kommt es auf die Verhältnisse zu Beginn des Kalenderjahres an. Dies gilt regelmäßig auch dann, wenn der Unternehmer seine bisherige unternehmerische Tätigkeit während des laufenden Kalenderjahres erweitert (Abweichung von Abschn. 246 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 5 Nr. 1 UStR 1985/1992).
Orientierungssatz
1. Eine spätere Erweiterung des Unternehmens kann sich in der Umsatzprognose nur dann niederschlagen, wenn der Unternehmer sich bereits zu Beginn des Kalenderjahres mit entsprechenden Gedanken trägt, die einen höheren Gesamtumsatz erwarten lassen (vgl. Literatur).
2. Eine Entscheidung nach § 127 FGO erübrigt sich, wenn das FA während des Revisionsverfahrens einen geänderten Steuerbescheid erlassen hat, dieser gemäß §§ 121, 123, 68 FGO in das Revisionsverfahren übergeleitet wurde, das FG zwar bezogen auf den geänderten Bescheid keine notwendigen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, die Beteiligten jedoch übereinstimmend erklärt haben, daß zwischen ihnen bezüglich der steuerlichen Behandlung des entsprechenden Sachverhalts kein Streit besteht und es damit keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen bedarf (vgl. BFH-Urteil vom 24.5.1989 I R 213/85).
Normenkette
UStG 1980 § 4 Nr. 11, § 19 Abs. 1, 4; UStR 1985 Abschn. 246 Abs. 3 S. 2; UStR 1992 Abschn. 246 Abs. 3 S. 2; UStR 1985 Abschn. 246 Abs. 3 S. 4; UStR 1992 Abschn. 246 Abs. 3 S. 4; UStR 1985 Abschn. 246 Abs. 5 Nr. 1; UStR 1992 Abschn. 246 Abs. 5 Nr. 1; FGO §§ 68, 127
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist seit Anfang 1985 als selbständiger Versicherungsvertreter tätig. Im Juni 1986 meldete er die Erweiterung seiner gewerblichen Tätigkeit um eine Tätigkeit als Immobilienmakler seit April 1986 an. Für diese Tätigkeit vereinnahmte er im Streitjahr (1986) Provisionen in Höhe von brutto rd. 126 000 DM. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) unterwarf diese Beträge der Umsatzsteuer und erließ --erstmalig-- einen Steuerbescheid.
Der Kläger war demgegenüber der Auffassung, die Voraussetzungen des § 19 des Umsatzsteuergesetzes 1980 i.d.F. bis zur Änderung durch das Steuerreformgesetz (StRG) 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I 1988, 1093, BStBl I 1988, 224) --UStG 1980-- als Kleinunternehmer zu erfüllen. Einspruch und Klage, mit denen er sich deshalb gegen seine Heranziehung zur Umsatzsteuer wandte, blieben aber erfolglos. Das Finanzgericht (FG) entschied, daß der Kläger die sich aus § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG 1980 für das Erstjahr der unternehmerischen Tätigkeit maßgebende Umsatzgrenze in Höhe von --seinerzeit-- 20 000 DM (seitdem: 25 000 DM) überschritten habe. Diese Umsatzgrenze von 20 000 DM und nicht die sich ebenfalls aus § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG 1980 für das laufende Jahr ergebende weitere Umsatzgrenze von 100 000 DM sei im Streitjahr ausschlaggebend. Zwar sei der Kläger auch bereits im Jahr 1985 unternehmerisch tätig geworden. Da er in diesem Jahr als Versicherungsvertreter aber lediglich nach § 4 Nr. 11 UStG 1980 steuerbefreite Leistungen ausgeführt habe, könnten sich hieraus für die Einschätzung, ob er als Kleinunternehmer anzusehen sei, keine Anhaltspunkte ergeben. Soweit sich aus Abschn. 246 Abs. 5 Nr. 1 der Umsatzsteuer-Richtlinien 1985 (1988/1992) --UStR 1985-- etwas anderes ergeben sollte, wäre dem nicht zu folgen.
Seine Revision stützt der Kläger auf Verletzung von § 19 UStG 1980.
Einen ausdrücklichen Antrag hat er nicht gestellt.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA einen geänderten Steuerbescheid erlassen und durch diesen --im wesentlichen wie vom Kläger beantragt-- Vorsteuerbeträge berücksichtigt. Der Kläger hat diesen Bescheid fristgerecht gemäß §§ 123 Satz 2, 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, daß hinsichtlich der berücksichtigten Vorsteuerbeträge Einvernehmen besteht
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Die Revision ist nicht schon deshalb begründet, weil das FA während des Revisionsverfahrens einen geänderten Umsatzsteuerbescheid 1986 erließ und der Kläger diesen gemäß §§ 121, 123, 68 FGO in das Revisionsverfahren überleitete. Zwar fehlen bezogen auf den geänderten Bescheid die notwendigen tatsächlichen Feststellungen des FG. Die Änderungen betrafen jedoch lediglich den Abzug von Vorsteuerbeträgen auf die vom FA und vom FG berechnete Umsatzsteuer. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, daß zwischen ihnen über Höhe und steuerliche Behandlung dieser Vorsteuerbeträge kein Streit besteht. Damit bedarf es keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen, weshalb sich auch eine Entscheidung nach § 127 FGO erübrigt (Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 24. Mai 1989 I R 213/85, BFHE 157, 521, BStBl II 1990, 8; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 127 Rdnr.3).
2. Das FG ist indes zu Unrecht von der Maßgeblichkeit der Umsatzgrenze von 20 000 DM ausgegangen.
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG 1980 wird die für Umsätze im Erhebungsgebiet geschuldete Umsatzsteuer nicht erhoben, wenn der in § 19 Abs. 1 Satz 2 UStG 1980 bezeichnete Umsatz zuzüglich der darauf entfallenden Steuer im vorangegangenen Kalenderjahr 20 000 DM nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 100 000 DM voraussichtlich nicht übersteigen wird. Umsatz i.S. von § 19 Abs. 1 Satz 2 UStG 1980 ist der Gesamtumsatz. Dieser Begriff ist in § 19 Abs. 4 UStG 1980 erläutert und erfaßt die Summe der steuerbaren Umsätze i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 UStG 1980 abzüglich u.a. der Umsätze, die nach § 4 Nr. 11 UStG 1980 steuerfrei sind (§ 19 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG 1980).
War der Unternehmer im vorangegangenen Kalenderjahr --wie der Kläger-- als Versicherungsvertreter tätig und haben seine Umsätze ausschließlich aus nach § 4 Nr. 11 UStG 1980 steuerfreien Provisionen bestanden, betrug sein Gesamtumsatz im Sinne dieser Vorschrift sonach null DM; die hiernach maßgebliche Umsatzgrenze von 20 000 DM konnte nicht überschritten werden. Dennoch bleibt es dabei, daß es auf diese Umsatzgrenze für dieses Kalenderjahr ankommt. Denn daran, daß der Unternehmer (bereits) in diesem Jahr unternehmerisch tätig gewesen ist, ändert die Steuerbefreiung der von ihm erbrachten Leistungen nichts. Der Sachverhalt ist nicht vergleichbar mit dem vom BFH durch Urteil vom 22. November 1984 V R 170/83 (BFHE 142, 316, BStBl II 1985, 142) entschiedenen Fall, daß das laufende Kalenderjahr das Erstjahr der unternehmerischen Betätigung ist, bei dem es naturgemäß nicht darum gehen kann, ob eine Änderung der bisherigen Besteuerungsform vorgenommen werden soll (vgl. zur Abgrenzung Weiß, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1984, 84, 85). Es ist insoweit auch unbeachtlich, wenn der Unternehmer während des laufenden Kalenderjahres seine bisherige und bereits im vorangegangenen Kalenderjahr ausgeübte unternehmerische Betätigung --im Streitfall durch die Aufnahme einer Immobilientätigkeit-- erweitert hat. Ausschlaggebend ist, daß es sich um den Umsatz eines und desselben Unternehmers handelt (s. auch Mößlang in Sölch/ Ringleb/List, Umsatzsteuergesetz, 5. Aufl., § 19 Bem.22).
Für die Frage danach, ob er im laufenden Kalenderjahr Kleinunternehmer ist, kommt es somit darauf an, ob sein Gesamtumsatz in diesem Jahr voraussichtlich 100 000 DM nicht übersteigen wird. Ob dies der Fall ist, beantwortet sich aufgrund einer Prognoseentscheidung, und zwar --darin schließt sich der erkennende Senat der Finanzverwaltung an (vgl. Abschn. 246 Abs. 3 Satz 2 UStR 1985)-- nach den Verhältnissen zu Beginn des Kalenderjahres. Zwar ging es dem Gesetzgeber bei der zusätzlich eingefügten Umsatzgrenze von 100 000 DM darum, eine "nicht mehr vertretbare ungleichmäßige Besteuerung zu verhindern", die sich gegebenenfalls hätte ergeben können, wenn allein auf den im Vorjahr erzielten Gesamtumsatz abgestellt worden wäre (vgl. Stellungnahme des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf des Umsatzsteuergesetzes 1980, BTDrucks 8/2827, S.76 f.). Dessen ungeachtet wird nicht auf den tatsächlichen Gesamtumsatz des laufenden Kalenderjahres abgestellt, sondern auf den voraussichtlichen Gesamtumsatz. Der tatsächliche Gesamtumsatz ist allein für das vorangegangene Kalenderjahr maßgeblich. Der Gesetzgeber hielt dies für dringend geboten, weil ein Unternehmer bereits zu Beginn eines Kalenderjahres wissen müsse, ob von ihm eine Steuer gefordert werde und ob er Steuer in Rechnung stellen könne oder nicht (BTDrucks 8/2827, ebd.). Nur solchen Unternehmern sollte also die Berufung auf den niedrigen Vorjahresumsatz versagt werden, denen wegen des zu erwartenden Gesamtumsatzes im beginnenden Jahr mit hinreichender Gewißheit der Status eines Kleinunternehmers verlorengehen würde (vgl. BFH-Urteil in BFHE 142, 316, BStBl II 1985, 142). Hiervon ausgehend entspricht es dem Gesetzesplan, regelmäßig auch dann von den Verhältnissen zu Beginn des laufenden Kalenderjahres auszugehen, wenn der Unternehmer in diesem Jahr sein Unternehmen erweitert. Auch dann muß für den Unternehmer frühzeitig feststehen, welcher Besteuerungsform er unterfällt. Die spätere Erweiterung des Unternehmens kann sich in der Umsatzprognose also nur dann niederschlagen, wenn der Unternehmer sich bereits zu Beginn des Kalenderjahres mit entsprechenden Plänen trug, die einen höheren Gesamtumsatz erwarten ließen (ebenso Mößlang in Sölch/Ringleb/List, a.a.O., § 19 Bem.24; Stadie in Rau/Dürrwächter/Flick/Geist, Umsatzsteuergesetz, 6. Aufl., § 19 Rdnr.35 ff.; Bülow in Vogel/ Reinisch/Hoffmann, Umsatzsteuergesetz, § 19 Rdnr.26; Peter/ Burhoff in Peter, Umsatzsteuergesetz 1980, 5. Aufl., § 19 Rdnr.25; s. auch Pflüger in Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, 7. Aufl., § 19 Rdnr.16). - Der erkennende Senat folgt damit insoweit nicht der Finanzverwaltung, nach welcher die Veränderung bei der Beurteilung der voraussichtlichen Umsatzgröße des laufenden Kalenderjahres mit zu berücksichtigen ist (Abschn. 246 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 5 Nr. 1 UStR 1985; zustimmend Widmann in Plückebaum/Malitzky, Umsatzsteuergesetz, 10. Aufl., § 19 Rz. 20).
3. Die Vorinstanz ist bei ihrer Entscheidung von einer abweichenden Rechtsauffassung ausgegangen. Die Entscheidung ist deshalb aufzuheben. Der Senat kann nicht durcherkennen. Das FG hat --seiner Rechtsauffassung nach zu Recht-- keine Feststellungen dazu getroffen, ob der Kläger bereits zu Beginn des Streitjahres damit rechnen konnte, daß der voraussichtliche Gesamtumsatz dieses Jahres die Umsatzgrenze von 100 000 DM überschreiten würde. Die erforderlichen Feststellungen sind im 2. Rechtsgang nachzuholen.
Fundstellen
Haufe-Index 65418 |
BStBl II 1995, 562 |
BFHE 177, 516 |
BFHE 1996, 516 |
BB 1995, 2306 |
BB 1995, 2306-2307 (LT) |
DB 1995, 1547-1548 (LT) |
DStR 1995, 1110-1111 (KT) |
DStZ 1995, 605 (KT) |
HFR 1995, 595-596 (LT) |
StE 1995, 465 (K) |